Dunkle Zahlen

  • Berlin: Matthes & Seitz, 2018, Seiten: 488, Originalsprache
Dunkle Zahlen
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Sebastian Riemann
891001

Belletristik-Couch Rezension vonJan 2019

Programmierte Literatur

Die GLM-3 ist eine alte Maschine, eigentlich ausgemustert und überflüssig. Sie steht bei den Köchinnen Annuschka und Annuschka in der Ecke, verstaubt mit jedem Tag ein bisschen mehr. Für die digitale Literaturmaschine interessiert sich niemand mehr, da es mittlerweile bessere und schnellere Maschinen gibt. Ihre Dienste werden nicht mehr gebraucht. Dann aber gibt es ein Problem mit der Kochnische, in der üblicherweise der Tee warmgehalten wird. Sie ist ausgefallen und der Teekessel droht auszukühlen, während nebenan die Großfürstin von Moskau Besuch empfängt und natürlich Tee anbieten will. Kurzerhand wird entschlossen, den Kessel auf die GLM-3 zu stellen. Man muss die Maschine nur anwerfen, damit sie sich und den Tee für die Gäste erwärmt. Anwerfen bedeutet bei der GLM-3, dass man ihren Erzählvorgang in Gang setzt.

Der Nachwelt ist die GLM-3 nicht erhalten geblieben, das letzte Model wurde wahrscheinlich vor einigen Jahren auf den Müll geworfen, ohne dass es jemand bemerkte. Ihr letztes Poem hingegen wurde unter dem Namen „Dunkle Zahlen“ gefunden. Der mehrfach ausgezeichnete Autor Matthias Senkel hat nun dieses Poem übersetzt und uns somit besondere Einblicke in die Schöpfungskräfte einer teewärmenden Erzählmaschine geschenkt.

Wovon mag ein Teewärmer erzählen? Wohin führt sein Programm?

Die GLM-3 ist die Schnittstelle zwischen Informatik und Literatur, eine Maschine, die zum Erzählen programmiert wurde. Wenn sie eine Geschichte aus ihren kreativen Schaltkreisen hervorbringt, macht sie Programmierer und Literaten zu Helden. Als historisch entscheidende Figur erschafft sie einen Mann namens Gawriil Jefimowitsch Teterewkin, der zusammen mit Lermontow, Gontscharow und Herzen in Moskau studierte, sich beinahe mit Puschkin duelliert hätte und als Vordenker der Poesieautomaten gilt. Er war der erste, der auf die Idee kam, dass Maschinen gigantische, allumfassende Geschichten verfassen könnten. Ein wahrer Vordenker der Programmierer.

Viele Jahrzehnte später ist sein Ruhm jedoch vergangen, zu Zeiten der Sowjetunion erinnert sich kaum noch jemand an Teterewkin. Vielmehr sind die jungen sowjetischen Programmierer damit beschäftigt, sein Erbe zum Ruhm des Vaterlandes fortzuführen. Sie basteln an den neuesten Maschinen und der neuesten Software, die es mit den Amerikanern aufnehmen kann. In Moskau treffen sie sich zum Wettstreit, zur Spartakiade junger Programmierer. Dort sollen sie ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen und gleichzeitig der großen und glorreichen Sowjetunion zu einer blühenden Zukunft verhelfen.

Eine Spartakiade ist selbstredend das Gegenstück zur westlichen Olympiade, benannt nach dem Sklaven, der sich gegen das römische Imperium erhob und ein früher Klassenkämpfer war.

Überwachung

Auch wenn die Spartakiade zwischen sozialistischen Brüderstaaten ausgetragen wird, veranlasst die sowjetische Führung die Überwachung der anderen Teilnehmer. Alle entsprechenden Zimmer im Hotel Kosmos wurden verkabelt und werden beständig abgehört. Schließlich muss man allerorts auf anti-sowjetische Tendenzen vorbereitet sein und ihnen sogleich mit aller Entschlossenheit begegnen können. Vorsicht ist besser als Nachsicht auch innerhalb der sozialistischen Staatenfamilie.

Darüber hinaus verfolgen Programmierer und Ordnungshüter ein weiteres Projekt, das ihnen mit Hilfe der neuesten Technik eine großflächige Überwachung der Bevölkerung ermöglichen soll. Zur Wahrung der Sowjetunion und ihrer Ideale wird an einer Witzzurückverfolgunsmaschine gebastelt. Denn Witze – in diesem Fall anti-sowjetische Witze – dienen nicht nur der Unterhaltung, sondern auch der Zerstörung des kommunistischen Ideals. Subversive Elemente benutzen Witze, um den Glauben in das System zu untergraben und im Dienste der Vaterlandsfeinde Unruhe zu schüren. Sie vergiften die Gedanken braver Sowjetbürger. Deshalb müssen sie ausfindig und unschädlich gemacht werden. Darin beseht die Aufgabe der Witzzurückverfolgunsmaschine, sie soll nicht nur das Auftreten schädlicher Witze feststellen, sondern auch mittels zahlreicher Sprachproben aus der gesamten Republik den Ursprung eines Witzes ausfindig machen können. Der Erfinder des Witzes, der ausgemachte Volksfeind, wird ermittelt und kann dann seiner Strafe zugeführt werden. Teterewkin würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, wozu seine einstigen Ideen verwendet werden.

Dunkle Zahlen umfasst verschiedene Handlungenstränge und eine Vielzahl an Personen, die nur indirekt und lose miteinander in Verbindung stehen. Es ist ein mitunter verwirrendes und höchst unterhaltsames Buch, das Geschichte und Fiktion gekonnt verbindet. Puschkin und Tetris ergänzen sich dabei zu einer literarischen Achterbahnfahrt während des kalten Krieges. Wer das Schütteln und Schaukeln nicht scheut, sollte unbedingt einsteigen und mitfahren.

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