Weihnachten

  • Berlin: Matthes & Seitz, 2018, Seiten: 196, Originalsprache
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Sebastian Riemann
801001

Belletristik-Couch Rezension vonJan 2019

Ein traumatisierter Weihnachtshelfer

Wenn die Familie an Weihnachten zusammenkommt, gibt es nicht nur Kekse, Knödel, Braten und Rotwein, sondern auch immer etwas Spannung. Alte Probleme tauchen wieder aus der Versenkung auf und werden sichtbar, nachdem sie lange Zeit im Schatten verbracht haben. Vergangene Kränkungen treten hervor und alte Narben reißen wieder auf. Die familiäre Nähe ist nicht nur Segen und Geborgenheit, sie ist auch Katalysator für Streitigkeiten. Doch meist treten die Differenzen nicht offen zu Tage, vielmehr werden sie in kleinen Anmerkungen und Codes versteckt. Schließlich soll das Weihnachtsfest ein Moment der Harmonie und Nächstenliebe sein. Maruan Paschen hat in Weihnachten ein ganz besonderes, schwieriges und komisches Familienfest geschaffen, das einem brodelnden Vulkan gleicht, der jeden Moment auszubrechen, Feuer und Käse zu speien droht.

Wie furchtbar kann Weihnachten sein? So schlimm, dass ein Familienmitglied alle anderen tötet, da er sie nicht mehr ertragen kann? Der Erzähler meint, es kann durchaus so schlimm sein. Vielleicht meint er das nicht so. Zumindest nicht so, wie es sich im ersten Moment anhört. Vielleicht will er nur sagen, dass Weihnachten wirklich stressig und traumatisch sein kann, dass man die Lust verspüren kann, der gesamten, verlogenen, aufschneiderischen Familie das Leben zu nehmen.

„..., was ich dabei für eine Rolle gespielt habe, jetzt mal ohne das Wort „Mörder“ gesprochen.“

Wenn die Familie Paschen Weihnachten feiert, wird viel gesprochen. Viele Anekdoten werden erzählt. Es wird aber auch viel verschwiegen oder in Geschenkpapier verpackt, damit es sich nicht so hässlich und bedrohlich anhört. Bestimmte Wörter werden vermieden, sie stehen aber im Raum, da der Erzähler sie durchaus wahrnimmt. Er kennt seine Familie, kennt ihre Geschichten und die Geschichten, die sie einander erzählen, um andere Geschichten nicht erzählen zu müssen. Der Erzähler packt immer wieder die Wortgeschenke aus und zeigt dem Leser, was sich hinter dem Gesagten verbirgt. Er ist ein Weihnachtsgehilfe. Kein besonders fröhlicher Gehilfe, denn so recht will ihm das Fest nicht gefallen. Aber ein sehr nützlicher Gehilfe, denn er interpretiert und übersetzt für seine Leserschaft, die erstaunt und mitunter verwirrt dem festlichen Essen beiwohnt.

Für sein eigenes Wohl muss der Erzähler das Weihnachtsfest verarbeiten, er muss es sich von der Seele reden. Und dem Therapeuten erklären. Das ist die Erzählsituation. Dem Therapeuten wird erklärt und geschildert, was an Weihnachten geschah. Die Geschichten werden wiedergegeben, das Essen beschrieben und ein möglicher Mord in Aussicht gestellt. Dabei kommen sie alle zu Wort. Nun gut, nicht alle, aber doch die meisten. Denn wie in jeder Familie gibt es Personen, die mehr erzählen und die Aufmerksamkeit ständig auf sich ziehen, und es gibt Personen, die kein Wort sagen, vielmehr über dem Fondue einschlafen und vom gesamten Drama wenig sehen. Bei den Paschens redet Tarzan am meisten, um nicht zu sagen, er redet zu viel. Mit jedem Schluck Wein, der seinen Weg in Tarzans Rachen findet, werden mehr Geschichten aus den Tiefen seines Wesen geholt. Viele davon sind unwahrscheinlich oder ungenau, einige freiheraus erfunden. Tarzan erzählt von früher, von Onkel Berlin, aber auch von in Deutschland lebenden Arabern.

Am Ende erzählt Tarzan sogar von diesem einen Weihnachtsfest, das ganz besonders war und das Leben des Erzählers prägen sollte. Es ist die Weihnachtsgeschichte zur Weihnachtsgeschichte, bei der kein Weihnachtsmann kommt. Vielmehr fehlt bei dieser Geschichte ein Weihnachtssheriff, der dem Weihnachtsmann ein Paar Handschellen anlegen sollte.

Weihnachten ist eine herrlich verschlungene, verwirrende Sammlung familiärer Geschichten. Es wird viel Braten mit Walnusssoße gegessen, über zahnärztliche Eingriffe philosophiert und beständig das Band der Familie belastet, im guten und im nicht so guten Sinne. Jedes Kapitel ist ein kleines Geschenk, das man gespannt auspackt und in die Höhe hält, um es im trüben Weihnachtslicht besser sehen zu können.

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