Sechs Koffer

  • Köln: Kiepenheuer&Witsch, 2018, Seiten: 208, Originalsprache
Sechs Koffer
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Sebastian Riemann
831001

Belletristik-Couch Rezension vonNov 2018

Verrat in der Familie

Wer hat den Großvater an die Russen verraten? Wer hat ihn auf dem Gewissen und macht dem Rest der Familie etwas vor, als wäre die Welt noch in Ordnung? Wahrscheinlich war es einer von seinen vier Söhnen, aber sicher ist die Sache nicht. Es könnte auch Natalia gewesen sein, die mit Dima verheiratet, aber eigentlich in seinen Bruder verliebt war. Nicht in den Bruder, der den Kontakt zum Rest der Familie abgebrochen hatte, sondern in den Bruder, der noch mit der Familie in Prag lebte und als Übersetzer arbeitete. Der zwei Kinder hatte, die ihn immer bei der Arbeit an der Schreibmaschine hörten und später Schriftsteller wurden.

Maxim Biller hat einen kurzen Roman mit autobiographischen Zügen geschrieben. Ein kleines Meisterwerk, das seinem kolossalen Roman Biografie folgt, diesem aber nicht nachempfunden ist und auch nicht als dessen Fortsetzung verstanden werden sollte. Die beiden Bücher sind grundverschieden. Biografie war knallbunt und voller Feuerwerk, ein rasanter Szenenzusammenschnitt ähnlich den Filmen von Quentin Tarantino. Sechs Koffer hingegen ist einfühlsam und geradezu zurückhaltend. Ein vorsichtiges Buch, bei dem Fingerspitzengefühl notwendig ist.

Biller lässt einen kleinen Jungen erzählen, der in Prag heranwuchs und später mit seiner Familie nach Deutschland übersiedelte. Er lässt ihn die Geheimnisse der Familie erkunden, kleine Nachforschungen anstellen und die familiären Entscheidungen in den Zeiten des Sozialismus nachvollziehen. Der Junge stellt allerhand Fragen und lässt schon früh Neigungen zur Literatur erkennen. Es fällt dementsprechend leicht, in dem jungen Erzähler eine Variante des Schriftstellers Maxim Biller zu sehen.

Weniger leicht fällt die Aufklärung des Rätsels um den verratenen Großvater. Das Familiengeheimnis wird gut gehütet, niemand gibt sich zu erkennen. Nach und nach geht der Erzähler alle Verdächtigen durch, versucht ihre Lage und ihre mögliche Motivation zu ergründen. Dabei wird er mit den Umständen der damaligen Zeit konfrontiert, da der Großvater als Schwarzmarkthändler und Gegner der Sowjetregierung ein leichtes und lohnendes Ziel abgab. Aber vor allem taucht er in die Tiefen der eigenen Familie hinab. Denn diese gibt den wahren Rahmen für die Suche ab. Ost und West dienen lediglich als Bühnenbilder, sind aber nicht der Stoff, aus dem dieser Roman gemacht ist. Die Enge der Familie, die vermeintliche Vertrautheit zwischen den einzelnen Mitgliedern und die Schwere eines Verrats in diesem Mikrokosmos, das sind die Themen, derer sich Biller in Sechs Koffer annimmt.

So versucht der junge Erzähler nicht die Geschehnisse zu rekonstruieren, die zur Verhaftung und Hinrichtung des Großvaters führten, sondern widmet sich vielmehr den Vertrauensverhältnissen in der eigenen Familie. Er will sehen, was sie übereinander denken und vermuten. Onkel Dima taucht dabei immer wieder auf. Der gutmütige, aber auch tollpatschige Dima, der selbst ins Gefängnis musste, weil er seine Flucht in den Westen so dilettantisch geplant hatte, dass halb Prag von seinen Plänen wusste und die Jahre im Gefängnis unausweichlich wurden. Dima, der seine schwangere Frau Natalia zurücklassen wollte, um selbst ungezwungen leben zu können. Aber auch die Brüder, die es bereits in den Westen geschafft hatten, werden verdächtigt. Sie hatten zuvor von den Geschäften des Großvaters in Russland profitiert, hatten reichlich Geld von ihm erhalten und sich den Neid der anderen verdient. Später wollte der Geheimdienst einen von ihnen zurück in die Tschechoslowakei locken, ihn dort festnehmen und ebenfalls ins Gefängnis werfen. Schließlich war er ein illegaler Flüchtling, hatte das Land unrechtmäßig verlassen. Aber der Plan wurde vereitelt, der Bruder konnte sich noch rechtzeitig retten. In der Folge brach er aber jeglichen Kontakt zur restlichen Familie ab und wollte nichts mehr mit ihnen zu tun haben.

Verrat und Gier lassen das Fundament der Familie erschüttern und geben diesem Roman die nötige Spannung. Der Erzähler folgt der Spur und findet viele Zerwürfnisse, aber auch Vertrauen und Zuneigung, Vergebung und Freude. Denn nicht alles ist schlecht in der zerstrittenen Familie. Sie ist wie alle Familien getrieben von einzelnen Wünschen, aber auch von einem Gefühl der Zusammengehörigkeit. Maxim Biller geht mit viel Feingefühl vor, ohne dabei kitschig oder melodramatisch zu werden, zeigt sich als Sternwarte inmitten des familiären Kosmos, der sich um ihn dreht und nicht loslässt.

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