Alligatoren

  • Hamburg: Harper Collins, 2018, Seiten: 432, Bemerkung: Ulrike Wasel, Klaus Timmermann
Alligatoren
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Stefanie Eckmann-Schmechta
901001

Belletristik-Couch Rezension vonSep 2018

Drei Frauen, drei Schicksale

Die erfolgreiche TV-Produzentin Deb Spera nimmt uns mit ihrem Roman weit zurück in die 1920er Jahre in die heißen Südstaaten Amerikas. In eine Zeit, in der sich ein gesellschaftlicher Wandel bereits erahnen lässt, aber viele Traditionen unverbrüchlich Bestand haben.

Atmosphärisch dicht mit vielen Details lässt Deb Spera das damalige Leben lebendig werden.

Was viele, so wie ich, sicherlich nicht wussten: Der Süden der USA wurde bereits vor dem Börsencrash 1929 in eine tiefe Wirtschaftskrise gestürzt. Durch die Baumwollkäferplage wurde der Bevölkerung in den Jahren von 1918 bis 1920 die Hauptlebensgrundlage entzogen. Eine große Armut und Hungersnot war die Folge; kurz nach dem Ende der Sklaverei traf es dieses Mal nicht nur die schwarze, sondern auch die weiße Bevölkerung. All das ereignete sich tatsächlich in Branchville, in South Carolina, wo auch dieser Roman spielt.

Die Menschen lebten überwiegend immer noch stark nach Rasse und Herkunft getrennt, im gesellschaftlichen Bereich aber auch in jeglichen Kontakten, sofern sie außerhalb eines Arbeitsverhältnisses lagen. In Anbetracht dieses eisernen Gesetzes, das sich unabänderlich auf jede Begegnung auswirkte, wird deutlich, wie ungewöhnlich die Verbindung der drei Frauen ist. Mehr noch: Dass sich die weitere Entwicklung ihrer Schicksale auf diese Weise ergibt, ist an sich schon eine überaus spannend zu lesende Entwicklung. Fußt sie doch ganz allein auf der großen Not jeder Einzelnen und auf dem tiefen Gefühl der Benachteiligung.

Schon das Entstehen dieser fragilen Allianz macht den Roman einfach unwiderstehlich

Geschickt spinnt Spera zu Anfang die einzelnen Fäden, einzelne Einblicke in das Leben der drei Protagonistinnen, bis daraus ein dichtes Geflecht aus Liebe, Schuld und Schmerz entsteht, das immer auch einen Aspekt des kleinen, bescheidenen Glücks in sich trägt oder zumindest die Sehnsucht danach. Am Ende erringen sie durch ihren Mut und ihre Loyalität zueinander den Triumph über die damalige Übermacht der Männer. Dabei sind es noch nicht einmal „dicke Freundinnen“ geworden – sie würden sich wohl nicht so bezeichnen. Wie alles, gehen sie auch das ganz pragmatisch an.

Die tragende Rolle nimmt Oretta, die schwarze Haushaltshilfe von Annie Coles ein. Annie Coles ist die Frau eines mächtigen Plantagenbesitzers: Obwohl Annie Coles auf ein sorgenfreies Leben setzen kann, das ihr alle Annehmlichkeiten bietet, ist Annie unglücklich. Sie hat ihren Sohn Buck durch einen Selbstmord verloren – da war er erst 13 Jahre alt – und sie hat ihre beiden erwachsenen Töchter verloren, die jeglichen Kontakt zu ihrem Elternhaus abgebrochen haben. So verzweifelt sie auch nach Antworten sucht, sie findet keinerlei Anhaltspunkt, warum alles so gekommen ist. Als sie durch Zufall die über viele Jahre verborgene Wahrheit entdeckt, die sie vielleicht auch nie sehen wollte, liegt ihr gesamtes Leben in Scherben und ihr Lebenswille erlischt.

Oretta hat schon viel in ihrem langen Leben gesehen und erlebt, so viel, dass sie mit einer großen Demut und Lebensweisheit mit ihren Mitmenschen umgeht. Meistens zumindest. Sie hat nur einzige Schwäche, wenn man es so nennen mag: Sie liebt ihren Mann über alle Maßen. Er ist seit seinem schweren Unfall als Heizer bei der Eisenbahngesellschaft verkrüppelt und muss seitdem ihren Lebensunterhalt Lumpen sammeln aufbessern. Doch sie kommen gut in ihrem bescheidenen Leben zurecht und würden sie niemals beklagen, trotz des frühen Todes ihrer einzigen Tochter. Diesen Schicksalsschlag hat Oretta niemals verwunden.

Oretta ist nicht auf den Mund gefallen, kann durchaus direkt und streng sein, ist nie um einen passenden Kommentar verlegen, doch sie weiß genau, wann sie beim weißen Mann den Mund halten soll - auch wenn sie noch so viel verstanden und gesehen hat.

Oretta ist eine sehr gläubige und pflichtbewusste Christin, doch dass sie, die schwarze Oretta, von Gertrude, einer Weißen, gebeten wird sich um deren kleine, halbverhungerte Tochter zu kümmern, ist ein Unding. Und Oretta ringt sehr mit sich - doch am Ende behält eindeutig ihre mütterliche Fürsorge Oberhand. Dabei ist es sehr schlecht um die kleine Mary bestellt. Das Mädchen ist nicht nur extrem unterernährt, sondern auch von Würmern befallen. Oretta fürchtet, dass das Kind nicht überleben wird. Und was würde dann mit ihr, der Schwarzen, geschehen?

Doch Mrs. Getrude Pardee besteht mit aller ihr noch zur Verfügung stehenden Kraft darauf. Geschunden und geschlagen von ihrem Ehemann bleibt ihr keine andere Wahl. Wenn sie und ihre Töchter überleben wollen, muss sie ihr Schicksal endlich selbst in die Hand nehmen -auch wenn das bedeutet, eine schwere Sünde zu begehen.

„Es ist leichter einen Mann zu töten, als einen Alligator, aber die Art der Jagd ist dieselbe“

Deb Spera nimmt diese so gegensätzlichen Perspektiven der drei Frauen ein und präsentiert - angereichert mit intensiven Kindheits- und Lebenserinnerungen - einen außerordentlich dichten und mitreißenden Roman. Deb Spera erklärt nicht, interpretiert keine Haltung, keinen Fehltritt und auch keine Härte; sie lässt jede ihrer Heldinnen ganz in ihrem Duktus erzählen. Wohl aber lässt sie ihre Heldinnen selbst urteilen, lässt uns Leser ganz nah heran. Lässt uns in ihre schwierigen, zerrissenen Leben eintauchen - jedes für sich tragisch und voller Brutalität: Sei es durch die Brüche im Leben oder durch den blanken Kampf ums Überleben.

Spera braucht keine dramaturgischen Tricks; sie lässt ausschließlich ihre Heldinnen ohne viel Pathos erzählen, weil das Leben so war, wie es war. Die Religion half, ein bisschen, die Menschen, die Gemeinschaft vielleicht schon etwas mehr. Es ist der ehrliche Zusammenhalt, der den Unterschied macht. Es gibt keine Zeit für Sentimentalitäten - zumindest nicht im entscheidenden Moment, in dem es darum geht, die richtigen Entscheidungen zu treffen, die alles bedeuten. Genau deshalb liest sich dieser Roman so spannend. Weil er glaubwürdig ist.

Die Sprache ist dabei eines der wichtigsten Mittel; ihre Träume, Gleichnisse, Erinnerungen, ihre Härte mit der sie den allerschlimmsten Widrigkeiten entgegentreten, werden jeweils in einer ganz anderen Ausdrucksweise wiedergegeben. Reflektiert sind sie alle und sie alle finden ganz eigene Sprachmelodien und Bildmuster, die uns in ihren jeweiligen Mikrokosmos eintauchen lassen. Jede erzählt für sich, doch je enger das Geflecht ihre Schicksale sich miteinander verbindet, desto intensiver wird das Leseerlebnis. Ein Buch, das man nur schwer wieder aus der Hand legen kann.

Deb Spera wuchs in Louisville, Kentucky, auf, wo sie auch bei ihrer Großmutter lebte, die sie heute noch immer sehr verehrt. Ihr gehört das TV-Produktionsunternehmen „One-Two Punch Production“, das so erfolgreiche Serien wie „Criminal Minds“ produziert hat. Deb Spera war u.a. Finalistin des Montana Literaturpreises. Ihre Arbeiten wurden in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht. „Alligatoren“ ist ihr erster Roman.

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