Der Akkordeonspieler

  • Berlin: Matthes & Seitz, 2017, Seiten: 142, Originalsprache
Der Akkordeonspieler
Der Akkordeonspieler
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Sebastian Riemann
761001

Belletristik-Couch Rezension vonMai 2018

Zwischen Sowjetunion und Berliner U-Bahnhöfen

Der Akkordeonspieler Kolenko sieht sich nach Zusammenbruch der Sowjetunion vor viele Fragen gestellt. Wie viele andere weiß er nicht, wie es mit dem Land und ihm persönlich weitergehen wird. Seine bisherige Arbeit als Musiker in Sanatorien hat sich in Luft aufgelöst. So wie vieles einfach verschwunden und vergessen ist, was kurz zuvor noch wichtig und selbstverständlich war. Es ist die Zeit eines großen, fundamentalen Umbruchs und niemand wird verschont. Altes löst sich auf und neues geht hervor. Dabei muss jeder zusehen, dass er nicht den Kürzeren zieht und sich auf der Seite der Verlierer wiederfindet. Man kann sagenhaft reich werden, aber auch gleichermaßen ungebremst in den Abgrund der Armut und des Elends rasen. Das Meiste ist ungewiss, da die Sowjetunion Teil der Vergangenheit wird, nur einer Tatsache kann sich niemand entziehen: Mit den Zeiten müssen sich auch die Menschen ändern. Wer sich nicht auf die neue Entwicklung einlässt, wird unweigerlich verlieren.

Kolenko hat Glück, ihm wird die Möglichkeit eröffnet, nach Berlin zu reisen und dort sein Auskommen zu suchen. Es ist zwar keine Arbeit und kein Einkommen, die ihm in Aussicht gestellt werden, aber eine Möglichkeit. Er kann nach Berlin und muss dann vor Ort sehen, wie er über die Runden kommt und Geld verdient. Also packt Kolenko sein Akkordeon ein und macht sich auf den Weg. Denn in der Heimat stehen seine Chancen, seine Familie zu ernähren, nicht gut. Einen alten Akkordeonspieler braucht niemand.

In Berlin wird er Straßenmusiker. Er lebt von der Güte der vorbeiziehenden Menschen, denen seine Musik gefällt oder denen er leidtut. An manchen Tagen sitzt das Wechselgeld den Leuten locker in der Tasche und sie geben gern und viel, an anderen Tagen läuft es nicht gut und Kolenko wird kaum beachtet. Mit großer Aufmerksamkeit beachtet er die Passanten, schaut ihnen in die Gesichter und ins Innere. Er erkennt ihren Frust und den Stress, aber auch die Ausgelassenheit und Freude, wenn der Sommer kommt. Dementsprechend wählt er seine Stücke aus. Er begleitet die Leute musikalisch in ihrem Alltag. Deshalb läuft es insgesamt gut und Kolenko sieht sich in der Lage, Geld für sich und seine Familie in Russland zu verdienen.

Die Unterkunft ist für ihn jedoch ein beständiges Problem. Für die Miete einer Wohnung oder eines Hotelzimmers reicht sein Straßenmusikergeld nicht. Auf einem Pappschild bittet er deshalb um Mithilfe und Herberge. Alte Witwen nehmen ihn gern auf, Kolenko bedankt sich höflich und versucht, seinen Gastgeberinnen keine Probleme zu bereiten. Das ist jedoch schwer, da die älteren Damen durchaus angetan sind von dem sympathischen Akkordeonspieler. Bei einem Glas Wein versuchen sie ihn zu verführen und bringen ihn in Bedrängnis.

In ihrem Porträt beschreibt Marie-Luise Scherer nicht nur Kolenko in Berlin, wie er sich durchschlägt und allerhand Berliner kennenlernt, sondern auch Kolenko den Heimkehrer, der mit prall gefüllten Taschen in den Zug am Hauptbahnhof steigt, um wieder in die Heimat zu fahren und seine Familie zu sehen. Mit viel Liebe und Hingabe erschafft die Autorin dabei Landschaftsbilder und das Zusammenspiel der verschiedenen Zeitgenossen Kolenkos, mit denen er sich ein Abteil teilt. Sie alle befinden sich auf dem Heimweg, schlagen gemeinsam die Zeit tot und berichten einander von ihrem Aufenthalt in Deutschland. Vor den Fenstern ziehen die alte Sowjetunion und neue Länder vorbei.

Als Kontrast zu Kolenko zeigt Marie-Luise Scherer das Leben reicher Russen in Berlin auf. Sie leben in Prunk und Überfluss. Für sie ist nur das Beste gut genug. Während der Akkordeonspieler in den Bahnhöfen der Hauptstadt musiziert, geben sie rauschen Feste und feiern einander. Sie haben gewonnen, befinden sich in der neuen Weltordnung auf der Seite der Gewinner. Um Hilfe müssen sie niemanden bitten, sie geben aus und laden ein. Ihren Reichtum zeigen sie gern.

Der Akkordeonspieler ist eine einfühlsame Studie, in der Zeitgeschichte nachvollziehbar und erlebbar wird. Kolenkos Schicksal steht stellvertretend für viele, die sich in einer alten Welt neu orientieren mussten. Er wird Teil Berlins, von den meisten jedoch kaum beachtet, von manchen aufgenommen und umworben. In der Ferne sucht er das Glück ,um in der Heimat glücklich mit der Familie leben zu können.

Der Akkordeonspieler

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