Ein Junge erlebt den Widerstand und die Veränderung
Hartmut Gründler war Umweltschützer zu einer Zeit, da Klimawandel und Erderwärmung noch nicht Eingang in den Wortschatz gefunden hatten. Der Glaube an den Fortschritt war noch ungebrochen. Mit hoher Geschwindigkeit schritt die Menschheit der Zukunft entgegen, die hell und makellos leuchtete. Kaum jemand glaubte an große, langfristige Probleme, die mit der zunehmenden Industrialisierung der Welt einhergehen. Die Wunder der Technik überzeugten und gewannen die Herzen. Nicht jedoch das Herz von Hartmut Gründler. Er widersetzte sich einer Entwicklung, die in Deutschland und auch in vielen anderen Ländern als die Zukunft der Energiegewinnung gepriesen wurde. Die Atomkraft.
Gründler wollte einen offenen Umgang mit den Gefahren der neuen Form der Energieerzeugung, er wollte Risiken diskutieren und sie öffentlich machen. Dabei ging es ihm um den Betrieb der AKWs und um die anschließende Lagerung des Brennmaterials. Beide Aspekte waren seiner Meinung nach klare Argumente gegen den Bau der Kraftwerke. Die Gefahr bei einem atomaren Unfall war zu groß, als dass man sie hätte rechtfertigen können. Die Lagerung der Brennstäbe eine ungewisse und gefährliche Sache, die über Jahrhunderte Probleme verursachen könnte. Bei Betrachtung der Risiken hätte die einzig schlüssige Reaktion eine frühe Abkehr von der Atomkraft sein müssen.
Allerdings war die damalige Regierung unter Helmut Schmidt anderer Meinung. Sie wollte die neue Technologie einsetzen, um Deutschland mehr Selbstbestimmung im Energiebereich zu geben und die Abhängigkeit von Ölimporten aus dem Mittleren Osten zu verringern. Wenige Jahre zuvor hatte man die Folgen Ölembargos zu spüren bekommen. Gegen Zweifel und Kritik war man bereit, sein Glück mit dem Atom zu probieren.
Einen öffentlichen Dialog wollte Gründler, damit die Bevölkerung über die Gefahren aufgeklärt würde. Die Regierung wollte AKWs. Es war, so Gründler, ein Betrug an den Menschen, für die Helmut Schmidt mit seiner Politik verantwortlich war. Eine große Kampagne zur Fehlinformation, zur Verschleierung von schwerwiegenden Gefahren.
Gründler widmete sein Leben dem Widerstand gegen die Atompolitik. Er verfasste Handzettel und Flugblätter, gründete Arbeitskreise. An Helmut Schmidt wandte er sich direkt, schickte ihm lange, anklagende Briefe, in denen er einen Kurswechsel der Politik und einen kritischen Umgang mit den neuen Kraftwerken forderte. Doch blieben seine Bemühungen weitgehend unbemerkt. Es fehlte die Unterstützung und die öffentliche Aufmerksamkeit, um die Mitbürger wachzurütteln. Hartmut Gründler musste zu drastischen Formen des Protestes greifen, um sich Gehört zu verschaffen.
Nicol Ljubic hat in seinem neuen Roman die Figur des Hartmut Gründler in eine Geschichte über eine Familie aus Tübingen eingebaut. Als Untermieter lässt er Gründler ins Haus einziehen und das traute Heim durcheinanderbringen. Mutter, Vater und Kind werden von diesem ungewöhnlichen, jungen Mann, der sich als Deutschlehrer durchschlägt, aus der Routine gebracht. Eigentlich war alles in Ordnung in der Familienwelt. Der Vater hatte ein gut gehendes Unternehmen, konnte für die Familie sorgen und sich ein schickes Auto leisten. Die Mutter kümmerte sich um den Haushalt und die Erziehung des Jungen, der die meiste Zeit mit seinem Fußball Sammelalbum verbrachte. Eine ganz gewöhnliche, nicht sonderlich interessante Familie. Vielleicht ein bisschen langweilig. Dann aber zog „dieser Gründler“ ein und infizierte die Mutter mit der Leidenschaft für die gerechte, aufgeklärte Atompolitik. Es dauerte nicht lange, bis sie ihrem Untermieter zur Gehilfin wurde, ihm beim Verfassen der Flugblätter half und ihn zu Protestaktionen begleitete, mit denen er das Gewissen der ahnungslosen Bundesbürger aufschrecken wollte.
Der Junge wurde dann auch eingespannt, musste mithelfen und Fußgängern kleine Zettel in die Hand drücken, damit sie über den Protest von Hartmut Gründler aufgeklärt wurden. Nicht ein- oder zweimal, sondern regelmäßig, so dass Proteste und Demonstrationen für ihn zu einem großen Teil seiner Kindheit wurden. Außerdem waren es Momente, die er mit seiner Mutter verbrachte, die sich ansonsten immer mehr aus ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau zurückzog.
Die Perspektive des kleinen Jungen auf die Veränderungen in der Familie und auf die gesamte Problematik der Atompolitik erlaubt es, die Geschichte frei zu entwickeln, ohne dass der Erzähler eingreift. Stets macht der brave Sohn, was er machen soll. Wenn Konflikte zwischen den Eltern zum Ausbruch kommen, sitzt der Junge nur ruhig dabei und denkt an sein Fußball Sammelalbum. Wird er zum Gehilfen bei Protestaktionen gemacht, weigert er sich nicht, sondern ergibt sich in sein Schicksal. Er ist ein bloßer Betrachter, manchmal ein stiller Zweifler, der mit kindlicher Schlichtheit die Überlegungen der Erwachsenen in Frage stellt und somit Widersprüche aufdeckt. Aber er greift nicht ein. Auch als erwachsener Mann wird er ein Zauderer bleiben.
Übermächtig erscheint die Figur des Hartmut Gründler und machtlos die Mutter des Jungen, die sich aus dem konservativen Familienumfeld befreien will, letztlich aber nicht anders kann, als ihr Leben und das ihres Sohnes einem anderen Mann zu verschreiben. Gründler selbst verbleibt meist in der Ferne, wird vom Jungen oft nur indirekt wahrgenommen, und erscheint auch dadurch größer als eine reale Person. Das mag auch daran liegen, dass jener Gründler nur das Sprachrohr einer Sache war, die größer ist als der Einzelne.
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