Berühre mich nicht

  • : Nagel & Kimche, 2017, Titel: 'Berühre mich nicht', Seiten: 160, Übersetzt: Annette Kopetzki
  • : Mondadori, 2016, Titel: 'Noli me tangere', Seiten: 171, Originalsprache
Berühre mich nicht
Berühre mich nicht
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Almut Oetjen
901001

Belletristik-Couch Rezension vonOkt 2017

Kein oberflächliches Urteil

Laura Garaudo, die schöne und junge Ehefrau des berühmten römischen Schriftstellers Mattia Todini, verschwindet kurz vor Erscheinen ihres ersten Romans. Laura wollte in das gemeinsame Landhaus nach Gonfalone fahren, um dort ein paar ruhige Tage zu verbringen, ist aber nie angekommen und hatte das offenbar auch nie vor.

Die Presse glaubt an eine geschickte Werbemaßnahme. Mattia befürchtet Schlimmes, schließt aber nicht aus, dass sie ihn wegen eines anderen Mannes verlassen hat.

Anscheinend ist Laura freiwillig gegangen, mit ihrem Pass und einer größeren Geldsumme. Kein Fall für die Kriminalpolizei also, doch Mattia und die Medien machen Druck und deshalb nimmt Commissario Luca Maurizi die Suche auf.

Er befragt Lauras alte Haushaltshilfe Filippa, ihren ehemaligen Kunstgeschichtsprofessor und Doktorvater Aldo Soncini in Bologna, liest wütende Briefe von Ex-Liebhabern und Briefentwürfe von Laura an Liebhaber und Freunde. Laura hatte ein intensives Sexleben vor und während der Ehe, und ihre alte Wohnung und ihren langjährigen Liebhaber, den Anwalt Michele Doria, nie aufgegeben. Ihr Mann scheint von all dem nichts zu wissen.

Lauras Spur führt quer durch Italien, nach Florenz und Padua, Pisa und Murano. Ihr Auto wird gefunden, abgestürzt von einer Brücke, ihre Handtasche mitsamt Führerschein aus der Lagune bei Venedig gefischt. Mattia hält das für eine beruhigende Botschaft, weshalb Maurizi an dessen Verstand zweifelt. Als ein anonymer Brief bei Mattia eintrifft, wittert die Presse eine Entführung.

Das biblische Fresko Noli me tangere von Beato Angelico, Lauras Promotionsthema, führt Maurizi auf die richtige Spur. Es zeigt die Begegnung zwischen Maria Magdalena und Jesus, nach dessen Tod und Auferstehung, bevor er in den Himmel auffährt.

Auf der Suche

Vordergründig erzählt Camilleri eine Kriminalgeschichte über das Verschwinden einer Frau. Tatsächlich aber wird weder ein Verbrechen vorbereitet noch begangen, auch gibt es polizeilich begründet nichts zu ermitteln.

Der Leser folgt der Suche des Commissario, erhält zusätzliche Informationen über Laura aus anderen Quellen, beispielsweise von Liebhabern. Davon hatte sie eine ganze Reihe, einen Marineoffizier, für den sie ihre Karriere als Kunsthistorikerin aufgegeben hat, einen vulgären Kellner aus ihrer Bar, einen Journalisten.

Maurizi will herausfinden, was mit Laura geschehen ist. Dazu muss er wissen, was sie für eine Frau ist. Als erstes befragt er denjenigen, der am wenigsten weiß – den Ehemann. Der ist seit vier Jahren mit ihr verheiratet, doppelt so alt wie sie, weiß aber so gut wie nichts über sie zu sagen. Er weiß von ihren amourösen Altlasten, glaubt aber, dass sie ihm in der Ehe treu gewesen ist. Die Haushälterin Filippa, von der mehr zu erwarten wäre, enttäuscht ebenfalls. Sie erweist sich als stupide, phlegmatisch, einsilbig und gleichgültig, obwohl sie sieben Jahre für Laura gearbeitet hat. Trotzdem kann Maurizi ihr eine wichtige Information entlocken. Maurizi tastet sich spiralförmig vor, nach dem Ehemann und der Haushälterin befragt er zwei Männer, die Laura besser kannten, ihren Dauer-Liebhaber, den Avvocato Michele Dario, und ihren Psychiaterfreund Franco Ghiberti, später den Menschen, der sie am längsten und am besten kannte, ihre enge, langjährige Freundin Giulia. Am Ende spricht die Verschwundene selbst. Es ist ein Herantasten an eine Frau, die von ihren verlassenen Liebhabern verurteilt wird als oberflächlich, dumm, skrupellos, unmoralisch, als Nutte oder trockene Wüste, auf der kein Gefühl gedeihen könne. Das kontrastiert scharf mit dem Urteil anderer, die sie als scharfsinnig und brillante Wissenschaftlerin bezeichnen, als sehr liebe Freundin, begeisterungsfähig, liebenswert, verletzlich. So entsteht nach und nach das Bild einer komplexen wie faszinierenden Persönlichkeit, voller Widersprüche und auf der Suche nach etwas, was sie nicht benennen kann.

Der Schlüssel zum Verständnis für diese Persönlichkeit ist die Kunst. Neben dem biblischen Motiv Noli me tangere (der dem Buch den Titel gibt) sind es T. S. Eliots Die Cocktail Party, mit dessen Celia-Figur Laura sich identifizierte, die Gedichte von Dino Campana und der Autor Lorca. Camilleri spürt dem biblischen Motiv intensiv nach, zitiert des Weiteren längere Dialogpassagen zwischen Celia und Reilly aus der Cocktail Party. Über die Kunst beginnt auch Laura sich besser zu verstehen, ihre Bedürfnisse und Wünsche. Eine ganz besondere Rolle spielt dabei ihr eigenes Romanmanuskript über eine Frau und deren Liebesbeziehungen und wie sich aus dem emotionalen ein existentielles Unbehagen entwickelt – die Konkursbilanz einer Frau von heute. Das Manuskript ist ebenso wie Laura verschwunden.

Erzählt wird der Roman in Form von Dialogen und Briefen, nicht unähnlich einem Theaterstück. Camilleri arbeitet keine Szenen aus, Beschreibungen eines dritten Erzählers fehlen, Angaben zu Ort, Zeit und Personen sind auf ein Minimum beschränkt. Was wir erfahren, erfahren wir nur durch die Figuren, nicht durch die Stimme eines dritten Erzählers.

Fazit:

Andrea Camilleris Kurzroman Berühre mich nicht erschien 2016 in Italien unter dem Titel Noli me tangere. Romanzo. Die Geschichte erzählt von der Suche nach einer Frau, im doppelten Sinn: Wer und wo ist Laura? Dabei entsteht das Porträt einer Frau, die voller Widersprüche ist, komplex, aber auch wiederum gar nicht so ungewöhnlich, wie Camilleri in seinem Nachwort anmerkt. Leichthändig geschrieben und unterhaltsam, dabei tiefsinnig und sensibel.

Berühre mich nicht

Andrea Camilleri, Nagel & Kimche

Berühre mich nicht

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