Das Gift
„Sie sind wie Würmer.
Was für Würmer?
Wie Würmer, überall.
Es spricht der Junge, er flüstert mir die Worte ins Ohr. Ich bin die, die fragt.
Würmer im Körper?
Ja, im Körper.
Erdwürmer?
Nein, andere Würmer.“
Leise stellt der Junge Amanda Fragen. Amanda liegt reglos, ihr Geist scheint in einer anderen Sphäre zu wandern. Sie hört nichts als die Stimme des Jungen, der sie ermahnt, sich zu erinnern. Aber woran? Fieberhaft rekapituliert Amanda, eine erwachsene Frau, die letzten Tage. Irgendetwas muss passiert sein, denn jetzt liegt sie taub in einem Bett und ihr Körper reagiert nicht mehr. Und wo ist ihre Tochter?
Da war Carla, die Nachbarin, die sie erst vor ein paar Tagen kennen gelernt hatte, in ihrem goldenen Bikini, Carla, die Kaffee trinkt und raucht und eine Geschichte zu erzählen hat. Und da ist Nina, Amandas kleine Tochter, zu der sie wieder und wieder den „Rettungsabstand“ berechnet: Wenn Nina sich jetzt kopfüber in den Pool stürzen würde, darf Amanda nur so und so weit von ihr entfernt sein, um sie retten zu können. Der Rettungsabstand wird immer wieder, fast zwanghaft, neu berechnet und angepasst – und doch scheint etwas schiefgegangen zu sein. Wo ist Nina?
In einem kleinen Dorf in Argentinien wartet Amanda mit Nina auf ihren Mann. Das Dorf, wirkt anfangs klein, ruhig und beschaulich. Doch bald schleicht sich die Ahnung ein, dass etwas nicht stimmt. Es beginnt mit Carlas Schilderung des scheinbar unverständlichen und schwer zu beschreibenden „Unfalls“ ihres Sohnes. Eine alte Frau im Dorf habe versucht, ihn zu heilen, doch es sei nicht gut gewesen, wiederholt Carla. Er sei anders, seitdem.
Samanta Schweblins erster Roman geht unter die Haut. Wie bereits in ihrer Erzählsammlung Die Wahrheit über die Zukunft entfalten sich in einer scheinbar normalen, harmonischen Welt kleine Störfaktoren, skurril-gefährliche Besonderheiten, die bald alles umzuwerfen scheinen. Die argentinische Autorin die 1978 in Buenos Aires geboren wurde, wurde bereits in 12 Ländern übersetzt. Sie hat den bedeutenden Fondo Nacional de las Artes und den Premio Vasa de las Americas gewonnen. Heute lebt und arbeitet Schweblin in Berlin, wo sie Workshops im kreativen Schreiben gibt.
Schweblins kurzer Roman setzt sich aus gruselig-mulmigen Fragmenten zusammen, die auf 120 Seiten eine präzise Geschichte mit Horror-Elementen entstehen lassen, die den Leser rätseln lässt und mit ihrer leichten Sprache und den vielen aufflackernden Zweifeln mitreißt. Nichtsdestotrotz kommt die Erzählung ohne Auslassungen aus, es gibt keine Unglaubwürdigkeiten oder Lücken in der Logik der erzählten Welt. Ihre Sprache ist präzise und knapp, eröffnet dadurch Freiräume und Leerstellen.
In dem kleinen argentinischen Dorf, in dem der Roman Das Gift sich abspielt, sterben Tiere, nachdem sie aus einem Bach getrunken haben. Pferde verenden auf einer Wiese, und Carlas Sohn begräbt die Enten, die in ihren Garten kommen und dort zugrunde gehen. Kinder kommen missgestaltet zur Welt, doch das alles sieht man nicht. Erst unter der Oberfläche kommen die Zweifel und Gefahren zum Vorschein, blitzen kurz auf, um sich dann wieder zu entziehen. Im Krankenhaus hängen Kinderzeichnungen, doch wo sind die Kinder des Dorfes.
Vieles bleibt unklar, die beklemmende und packende Geschichte lebt von Andeutungen, und erlaubt so dem Leser, sich Gedanken und Sorgen zu machen – und seine eigene Vorstellungskraft in der Antizipation des Kommenden spielen zu lassen. Was sind das für Würmer? Und welches Gift infiltriert sich in die Stadt, in die Natur, in die Bewohner? Was ist passiert? Denn es ist bereits passiert, und nun gilt es, mühsam die Bruchstücke Amandas Erinnerung zusammenzusetzen. Und hinter all dem scheint die unabwendbare Gewissheit zu stecken, dass, obwohl es bereits passiert ist, vielleicht das Verständnis helfen würde – doch wobei? Wird noch etwas passieren, das man verhindern könnte? Unheimlich und faszinierend ist der Fluss der Erinnerung Amandas, und nach und nach lernt der Leser auch den Jungen kennen, dessen Stimme Amanda anleitet und anspornt, nicht aufzugeben, sondern sich zu erinnern, bevor es zu spät ist. Zu spät für wen? Für Amanda, oder für Nina? Oder gar für das Dorf?
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