Der Lärm der Zeit

  • : Kiepenheuer und Witsch, 2017, Titel: 'Der Lärm der Zeit', Seiten: 256, Übersetzt: Gertraude Krueger
Der Lärm der Zeit
Der Lärm der Zeit
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Sebastian Riemann
841001

Belletristik-Couch Rezension vonAug 2017

Was ist man gewillt, für die Musik und die Familie zu ertragen?

Ein feiger Stierkämpfer hat Angst vor den Hörnern und Hufen des Stiers, er fürchtet sich davor, von den spitzen Hörner aufgespießt, in die Luft und auf den Boden der Arena geworfen, dann von den Hufen zertreten zu werden. Die Angst lässt ihn schwitzen und übereilt zur Seite springen, wenn er den Stier in der Nähe spürt. Vor seinem inneren Auge sieht er nicht das jubelnde Publikum der Arena, das seinen Sieg und den Tod des Stiers feiert, sondern das glanzlose Ende auf dem staubigen Boden. Er fürchtet die Kraft des Tieres, die Spitze der Hörner und die Wildheit, die in dem großen, starken Körper steckt.

Ein feiger Soldat hat Angst vor den Geschützen des Feindes, er fürchtet sich vor der Kugel, die ihn niederstreckt, ihm das Leben nimmt oder so schwer verwundet, dass ihm die Ärzte einen Arm oder ein Bein abnehmen müssen. Er fürchtet den Tod und die Schmerzen. Wann immer er kann sucht er Deckung und vermeidet es, sich in das Blickfeld der feindlichen Soldaten zu begeben. Er will kein Held werden, sondern nur in einem Stück heimkehren.

Ein feiger Komponist hat Angst vor dem Regime der Sowjetunion.

Dmitri Schostakowitsch war der bekannteste Komponist der Sowjetunion, ein Aushängeschild der neuen, der modernsten und fortschrittlichsten Gesellschaft auf Erden. Ein hell leuchtender Stern in einer Welt, die sich in zwei Lager teilte. Bewundert und verehrt wurde er. Jedoch war er auch Zielscheibe der Regierung, jemand, der angegriffen und manipuliert wurde. In Zeiten des Misstrauens und Überwachung, Anschwärzungen und Verleumdungen konnte er ebenso wenig dem Schicksal entgehen wie die vielen anderen Intellektuellen und Künstler. Der Lärm der Zeit widmet sich diesem Wechselbad aus Erfolg und Unterdrückung. Das Buch stellt Fragen nach Verantwortung, nach Ehre, Feigheit, nach Kunst und Politik.

Josef Stalin besuchte die Aufführung einer Oper Schostakowitschs. Das war eine große Ehre und Gefahr, denn Gunst und Missgunst lagen im Sowjetreich oft nahe beieinander. Der Komponist war entsprechend nervös und verunsichert, ebenso der Dirigent und das Orchester. Man wollte und musste Stalin gefallen, das war allen bewusst, die an dem Werk beteiligt waren. Schließlich war er Herrscher über Leben und Tod. Sich vorzustellen, was eine negative Beurteilung durch den Führer der Sowjetunion bedeuten würde, reichte aus, jedem Musiker den Schweiß auf die Stirn zu treiben. So kam es dann auch, dass hier und da übereifrig gespielt wurde, wie Schostakowitsch, der alles aufmerksam beobachtete, feststellen musste. Als der zweite Teil der Oper begann, war es geschehen: Stalin erschien nicht mehr auf seinem Platz. Er hatte das Gebäude und das Werk verlassen. Er konnte es nicht ausstehen, sich diese Musik noch weiterhin anzuhören. Einige Tage später erschien ein Artikel in der Zeitung, in dem die Oper als Verstoß gegen die Ideale der Sowjetunion verurteilt wurde. Wahrscheinlich war Stalin selbst der Verfasser dieses Artikels. Schostakowitsch war erledigt, nicht nur als Komponist, nicht nur in der Musikwelt, sondern als Mensch.

Jede Nacht kleidete sich Schostakowitsch an, nahm seinen fertig gepackten Koffer in die Hand und stellte sich vor den Aufzug. Dort wartete er die ganze Nacht, rauchte hin und wieder eine Zigarette, um die Anspannung ertragen zu können. Am Morgen ging er dann zurück in seine Wohnung, zu seiner Frau und seinem Kind. Er ging davon aus, Besuch zu bekommen, Besuch, der ihn unsanft aus dem Bett ziehen und vielleicht auch seine Familie mitnehmen würde. Als Vater und Ehemann wollte er das verhindern und wartete vor dem Aufzug auf die Vertreter des Regimes, die Stalins Ablehnung in harte Gewalt umsetzen würden. Dort wollte er sie abfangen und sich freiwillig ausliefern. Aber sie kamen nicht. Schostakowitsch blieb die Angst um die Familie und die Ungewissheit bezüglich seiner Karriere als Komponist.

Zu diesem Zeitpunkt wusste er nicht, dass dies nur der Anfang war. Die Schlinge des Staates würde sich in den Folgejahren immer enger um seinen dünnen, zarten Hals ziehen und immer drängender würde die Frage nach seiner Integrität gestellt werden.

Das Buch beginnt mit einem mutigen Mann am Aufzug, er will seine Familie beschützen und sich freiwillig seinen Widersachern aussetzen. Aber mit der Zeit wächst die Angst in ihm und die Macht um ihn herum. Er muss sich zu Diensten machen oder alles riskieren. Das Spiel ist ungleich, die Regeln werden von einer Seite diktiert und von der anderen Seite akzeptiert. Ein Einzelner ist nichts gegenüber den Idealen und der Bestimmung der Sowjetunion. Der mutige Mann vor dem Aufzug muss weichen, wenn er weiterhin die Sicherheit seiner Familie und sein musikalisches Fortbestehen wahren will.

Mit knappen, einfachen Sätzen beginnt Der Lärm der Zeit und gibt damit den Ton für den Verlauf der Geschichte vor, in dem alles übermächtig und somit gegeben erscheint. Simpel und karg wirken die Gedanken und Gegebenheiten. Alles ist von oben bestimmt. Einzig die russischen Sprichwörter vermögen das düstere Szenario im Schatten Stalins zu beleben. Das Resultat ist eingängig und überzeugend, nur die Frage nach der Feigheit will man sich am Ende nicht beantworten, auch wenn es Schostakowitsch bereits erledigt hat. Sie steckt im Buch, in allen Teilen, und macht den unruhigen Reiz aus, der von ihm ausgeht. Bei einem Stierkämpfer ist es so viel einfacher, zu beurteilen, ob er ein Feigling ist oder nicht.

Der Lärm der Zeit

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