Boy

  • Berlin: Klaus Wagenbach, 2016, Seiten: 224, Übersetzt: Christiane Burkhardt
  • Amsterdam: Prometheus, 2013, Titel: 'Boy', Originalsprache
Boy
Boy
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Claire Schmartz
951001

Belletristik-Couch Rezension vonSep 2016

Ein starker Roman mit einer wichtigen Geschichte

 

"Bei einer normalen Therapie geht es nicht darum, was wirklich passiert ist; das Einzige, was zahlt, ist, wie der Patient die Vergangenheit erlebt hat. [...] Doch hier herrschen andere Gesetze, denn diese Wahrheit ist existenziel."

 

Versteeg setzt sich mit dem Schlimmsten auseinander, das Eltern zustossen kann: dem Tod ihres Kindes. Mit einer sehr klaren und ohne viele Beschreibungen auskommenden Stimme schildert sie die Hilflosigkeit und die Ohnmacht einer Mutter, die ihren Sohn verloren hat, ohne zu wissen, was genau passiert ist. Die Trauer. Die brennende Ungewissheit, die vom konstanten Hinterfragen der eigenen Schuld und Verantwortung durchwoben wird:

 

"Ich habe ihn verloren. Er ist mir genommen worden." Denn plötzlich scheint mir das die beste Formulierung zu sein, um auszudrücken, dass er vielleicht schon längst verschwunden war, bevor ich es gemerkt habe.

 

Die Mutter liebte ihren Sohn und wollte das Beste für Boy, wollte ihn dazu anspornen erfolgreich zu sein: Es geht ja schliesslich um seine Zukunft. Doch das verhinderte nicht, ja war vielleicht einer der Auslöser dafür, dass die beiden sich entfremdeten: In seiner Pubertät verschloss sich Boy, wurde ungelenker.

Boy war ein Adoptivkind. Immer wieder kreisen die Gedanken der namenlos bleibenden Mutter und Erzählerin darum, dass das vielleicht auch mitgespielt haben könnte. Schon während Boys Kindheit fühlte sie zunehmend eine Fremdheit zwischen beiden, trotz der Liebe und des Stolzes, Zweifel ihrer selbst an ihrer Rolle und Legitimation. Und ihrer Wichtigkeit. Diese Fremdheit, die Entfremdung von sich selbst, diese Überreflektierung der eigenen Rolle. Doch sie sieht gleichzeitig die Paralellen zwischen ihren Schwächen und jenen ihrer Mutter, die sie in ihrer Kindheit erschütterten.

Zusammen mit der Mutter reist der Leser nach Sofia, in eine trockene, unfruchtbare und sogar tödliche Wildnis, die es zu bezähmen gilt. Die Protagonistin begibt sich aber vor allem nach Sofia, um die ehemalige Lehrerin Hannah aufzuspüren. Mit der Gewissheit, diese Frau vermutlich für ihre Schuld töten zu müssen. Denn die einzige Information, die ihr bleibt, ist die Aussage einer ehemaligen Mitschülerin Boys:

 

"Es war die Bitch vom Theaterunterricht, wegen der ist er durchgedreht. Die müssen Sie sich vorknöpfen, nicht uns!"

 

In Sofia betreibt Hannah ein kleines Selbstversorgerhaus mit Garten - und die Protagonistin hilft als Voluntärin mit. Vor irgendetwas scheint Hannah geflüchtet zu sein, diese junge, dünne Frau mit langem Zopf und Piercing im Nasenflügel.

 

"Im Sommer kampfen selbst die Baume bei Temperaturen von vierzig Grad ums Uberleben – und wenn er dann vorbei ist, ist alles verdorrt. Im Winter kann es hier minus zwanzig Grad werden und meterhohen Schnee geben. Wenn man nicht genug Brennholz hat, droht man, zu erfrieren. Dieses Land, diese Harte macht etwas mit den Menschen. Nicht mit den Bulgaren, denn die sind das gewohnt, die kennen nichts anderes. Aber wir Westler, die wir hierherkommen oder vielleicht sogar hierher fluchten, haben nicht die leiseste Ahnung. [...] Es ist einsam hier. Aber wenn man noch neu ist, kommt einem die Einsamkeit erst wie Freiheit vor."

 

Die Mutter versucht vier Jahre nach Boys Tod herauszufinden, was passiert ist. Wer war Boy überhaupt, als er verschwand? Es ist auch eine Suche der Schuld, bei anderen, bei sich selbst. Auf diesem qualvollen Weg verliert sich die Mutter mehr und mehr hinter schmerzvollen Enthüllungen und Einsichten. Beide leben nebeneinander, bis sie im tiefen bulgarischen Winter zusammen eingeschneit sind und man nur noch das Feuer am Brennen halten muss und nichts anderes machen kann als reden.

Die Protagonistin adressiert sich mit einem 'du' an sich selbst, das zugleich den Leser aufrüttelt, der eigentlich nur mitlesen kann - als würde er zuhören. Darauf brennend, zu wissen, was eigentlich passiert ist, wie genau es denn dazu kommen konnte, bleibt er Zuhörer von Figuren, die alle fehlbar sind und mit ihrer Machtlosigkeit konfrontiert werden.

Spannend in einer klaren Ruhe, bündelt die Zweisamkeit und das Sprechen der Figuren die Stärke des Romanes. Das 'du' schliesst den Leser schmerzhaft ein und die Erzählungen der Figuren sind mitreissend: in dem Huis Clos des winterlichen Bulgariens tragen diese Gespräche plötzlich die Handlung des Romans, die Sprachlichkeit ersetzt grosse Beschreibungen durch scharfe Charaktere. Versteegs Boy ist ein starker Roman mit interessanten Figuren und einer Geschichte, die wichtig ist. Beeindruckend!

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