Die Ausgewanderten

  • Fischer
  • Erschienen: Januar 1994
  • 1
  • Frankfurt: Fischer, 1994, Seiten: 352, Originalsprache
Die Ausgewanderten
Die Ausgewanderten
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Sebastian Riemann
901001

Belletristik-Couch Rezension vonJul 2016

Die Spur einer Lebensgeschichte aufnehmen

Suchen, finden, ausharren, sich erfreuen und zugrunde gehen. Leben in der Ferne erfüllt und übererfüllt das Dasein. Essentiell und doch zu viel. In vier Geschichten erleuchtet der große W.G. Sebald das Ausgewandertsein, ist dabei unerbittlich und neugierig.

Dr. Henry Selwyn gelang als Jugendlicher nach London, wo er schnell die englische Sprache erlernte, da er seine Lehrerin besonders hübsch und reizend fand. Später verbrachte er die glücklichste Zeit seines Lebens beim Bergsteigen und Wandern in den Schweizer Bergen, in Gesellschaft eines jungen Mannes, der ihm die liebste Person wurde, der er in seinem Leben begegnete. Doch endete das Glück zu schnell, der junge Henry musste zurück nach England, musste seinen besten Freund zurücklassen in der idyllischen Schweiz, wo der sehr begabte Bergsteiger überraschenderweise in den Bergen, die er doch so gut kannte, verloren ging und sich für Henry in eine ferne, unerreichbare Erinnerung verwandelte. Die Freundschaft ein verlorenes Paradies und die verlorene Möglichkeit vielleicht in der Schweiz eine neue Heimat zu finden, ein neues Leben. Doch kehrte Henry nicht wieder zurück in die Schweiz, blieb dem vergangenen Glück fern und fand sich in ein abgelegenes Dasein in England ein, wo er heiratete und auf dem Land ein Leben zu führen begann, das einem Einsiedler gleicht. Am Ende war ihm alles unerträglich, die Abgeschiedenheit seiner Hütte nicht genug und er beendete den Versuch im Leben noch glücklich zu werden.

Der frühere Lehrer Paul Bereyter legte sich auf die Schienen und ließ sich vom nächsten Zug überfahren. Das weckte das Interesse des Erzählers, der sich noch gut an seinen ehemaligen Lehrer erinnern konnte. Er rief sich ins Gedächtnis, was er mit diesem stets melancholischen Mann verband, und machte sich schließlich auf den Weg, um Nachforschungen bezüglich des Lebens des Verstorbenen anzustellen. Der Lehrer Bereyter war nicht ausgewandert, aber doch fremd unter seinen Mitmenschen. Er galt als bizarr, als komischer Kauz. Lange Zeit dürfte er aufgrund seiner teilweise jüdischen Abstammung nicht als Lehrer arbeiten, das nahm ihn sehr mit, da der Umgang mit Kindern seine Berufung war. Doch nicht nur er selbst war während der NS-Zeit ein Opfer der Umstände geworden, andere, Bekannte und Freunde von ihm, überlebten diese düstere Epoche nicht und wurden zu Geistern für Bereyter, der in seinem Leben immer bemüht war den Weg nach vorne zu suchen. Als Soldat zog er für Nazi-Deutschland in den Krieg, von Front zu Front, um sich verdient zu machen, um anerkannt zu werden und arbeiten zu dürfen. Sein Plan ging auf, aber fortan lebte er unter Fremden, inmitten einer Gesellschaft, die ihn und seinesgleichen zuvor verstoßen und ermordet hatte. Tod durch Eisenbahn war infolge dieser Biografie keine praktische, sondern eine bedeutungsvolle Lösung.

Der Adelwarth-Onkel wanderte schon früh nach Amerika aus und wurde dort der Bedienstete reicher Leute, die ihn aufgrund seiner eleganten und eloquenten Art anstellten, um auf den jungen Spross, auf den Nachwuchs aufzupassen. Cosmo Salomon war nicht nur jung und reich, sondern auch mysteriös und exzentrisch. Legenden ringen sich um sein Leben und seine merkwürdige, immer etwas menschenscheue Persönlichkeit, zu der wohl der Adelwarth-Onkel den besten Zugang hatte von allen Menschen, die in die Nähe des jungen Cosmo gelangten. Zu zweit bereisten sie die Welt, versetzten die Casinos in aller Herren Länder in helle Aufregung, da Cosmo über scheinbar übermenschliche Fähigkeiten verfügte, wenn es darum ging, beim Glücksspiel zu gewinnen. Tagebücher, Postkarten und Fotos geben Aufschluss über ihre Reisen und ihre Leben, die beide tragisch endeten. In gewissenhafter Recherche birgt der Erzähler der Geschichte vom Adelwarth-Onkel jene Dokumente und rekonstruiert das Geschehen, soweit es ihm erlaubt ist.

Der Maler Ferber lebte in Manchester, als ihn der Erzähler der vierten Geschichte kennenlernte. Er verbrachte seine Zeit in einem düsteren Studio, in dem er unablässig malte und seine Malerei korrigierte. Schicht um Schicht trug er auf die Leinwand auf, nur um sie später abzukratzen, da er nicht zufrieden war mit seinem Werk und es verbessern, erneuern wollte. So fielen die abgeschabten Farbreste auf den Boden, fielen auf die Reste anderer Bilder, die zuvor gemalt und wieder und wieder korrigiert wurden, vereinten sich zu einer dicken Schicht, die den Boden im Studio bedeckte und das sichtbare Zeichen der Arbeit des Malers wurde, vielmehr noch als seine Bilder, wie er selbst, halb im Scherz, halb verbittert, anmerkte. Manchester, die Stadt, die einst das Zentrum der modernen Welt, Vorbild für die Industrialisierung war, dann aber ihren Vorsprung an den Rest der sich schnell ändernden Welt verlor und ins Hintertreffen geriet, begeisterte den Erzähler, der jung war, da er die Stadt kennenlernte, und viel Charme in den alten, verlassenen Industrietempeln fand. Erst viele Jahre später, da der alte Ferber schon eine ferne Erinnerung im Leben des Erzählers ist, macht sich jener auf den Weg, um den Freund aus der Zeit in Manchester nach seiner Lebensgeschichte zu fragen. Auch er war vor den Nationalsozialisten in Deutschland geflohen, im Kindesalter wurde er von seinen Eltern nach England zum Onkel geschickt, damit er überleben konnte. Die Eltern wollten ihm folgen, doch erlaubten es die Umstände nicht.

Sebald schreibt Biografien mit unglaublicher Präzision, er schreibt sie nicht mit einer Fülle an Details und vielen Verzweigungen, sondern mit einem Fokus, der nichts geringeres als das Wesentliche der darzustellenden Person herausschälen und darstellen will. Das Wesen einer Person im Wandel der Zeit, wie es geformt wird, sich selbst wandelt, sich einen Platz in der Welt sucht, mitunter verzweifelt und verhärtet, das ist es, was Sebalds Biografien der Ausgewanderten so einzigartig macht. Er erlaubt dem Leser ein Gefühl für das Innere dieser Personen zu entwickeln, ihre Tragik nachzuspüren, ohne dass sie dafür in allzu präzise Ausdrücke verpackt werden, die dem Ganzen das Erlebte nehmen und nur Etikette zurücklassen würden.

Stets recherchiert der Erzähler, folgt Spuren, befragt Hinterbliebene, durchsucht Dokumente, um dem Dasein eines Menschen Licht zu geben. Es ist mehrdimensionale Erinnerungsarbeit, die er leistet und die mit jedem Schritt das Erinnern und die Vergangenheit ein bisschen mehr ans Licht bringt. Dabei bleibt viel im Dunkeln, denn dieses Suchen ist stets nur unzureichend, aber es ist ein fruchtbares Einleben und somit Wiederbeleben der verstorbenen Person, die in persönlichen Dokumenten, wie Postkarten oder Tagebüchern, wieder vor dem Erzähler und dem Leser aufersteht.

Die Ausgewanderten

W. G. Sebald, Fischer

Die Ausgewanderten

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