Der weite Raum der Zeit

  • London: Hogarth, 2015, Titel: 'Gap of Time', Originalsprache
  • München: Albrecht Knaus, 2016, Seiten: 288, Übersetzt: Sabine Schwenk
Der weite Raum der Zeit
Der weite Raum der Zeit
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Almut Oetjen
791001

Belletristik-Couch Rezension vonJul 2016

Wintersons Wintermärchen

Der krankhaft eifersüchtige Londoner Investmentbanker Leo Kaiser quält sich mit der Vorstellung, dass seine Frau MiMi ihn mit seinem Freund Xeno betrügt. MiMis Baby Perdita lehnt er als Brut des Ehebruchs ab. Nicht einmal ein Gentest kann ihn von seiner Vaterschaft überzeugen. Er trennt sich von seiner Frau, Perdita wird in die USA gebracht. Fortan ist er alleinerziehend für seinen Sohn Milo verantwortlich. Dies ist aber nicht der Anfang der Erzählung Wintersons.

Da die Geschichte irgendwo beginnen muss, wie Winterson schreibt, beginnt sie damit, dass der Barpianist Shep und sein Sohn Clo in einer heiß-schwülen Nacht in New Orleans Zeugen eines brutalen Mordes werden und in einer Babyklappe ein Mädchen und einen Aktenkoffer mit Unterlagen, 500.000 $ Bargeld, Schmuck, Diamanten sowie ein Notenblatt mit dem Namen Perdita finden. Damit hat Winterson sogleich einen zündenden Einstieg, der über einen die Aufmerksamkeit der Leser fesselnden ersten Satz hinausgeht. Shep nimmt alles mit und adoptiert das Baby auf unkonventionelle Weise. Nach Jahren verlieben sich Xenos Sohn Zel und Perdita ineinander. Sie machen sich daran, das Rätsel der Herkunft Perditas zu lösen.

In Anlehnung an Shakespeares Theaterstück "Das Wintermärchen" erzählt Jeanette Winterson in Der weite Raum der Zeit, einem Buchtitel, der Thema einer Bachelorarbeit sein könnte, zwei Unterhandlungen, die sich zur großen Romanhandlung fügen. Der weite Raum der Zeit, im Original "The Gap of Time", ist der erste Roman in einer Reihe von geplanten acht Neuerzählungen Shakespearescher Stücke zum 400. Geburtstag des Meisters.

Wintersons Version des Stückes ist inhaltlich recht eng an die Vorlage angelehnt. König Leontes wird zu Leo, einem paranoiden Hedgefondsmanager in der Post-Crash-Zeit, die Königin Hermione zu MiMi, einem französischen Popstar, ihre Bedienstete und Vertraute zu einer jüdischen Geschäftsführungsassistentin, die yiddische Sprichwörter in Gespräche einstreut. Der Schäfer wird zum schwarzen Musiker Shep. König Polixenes ist der Computerspiel-Entwickler Xeno, sein Sohn Florizel heißt bei Winterson Zel und hat eine gestörte Beziehung zu seinem Vater.

Der Originaltitel des Romans entspricht dem des Computerspiels, das Xeno auf Grundlage eines Traumes des französischen Dichters Gérard de Nerval entwickelt hat. Das Spiel fungiert als kommentierende Parallelwelt.

Winterson scheint gerne die Kunst der Aneignung zu betreiben. Bereits in Die Last der Welt erzählt sie Teile des antiken Mythos um Herkules und Atlas auf eine persönliche Weise nach und nennt das Ergebnis eine "Coverversion".

Der weite Raum der Zeit besteht aus drei Teilen. Mit einer Art Prolog, genannt Das Original, in dem sie das Wintermärchen inhaltlich zusammenfasst, beginnt Winterson, um anschließend zu ihrer Erzählung des Theaterstücks zu wechseln, die sie mit dem Zwischentitel Die Cover-Version versehen hat. Der Hauptteil besteht aus drei durchnummerierten Akten mit zwei Pause genannten Unterbrechungen. Diese Pausen dienen der Reflexion. Ein Epilog beendet den Roman. Winterson kombiniert ihre Erzählung mit biographischen Sequenzen und persönlichen Kommentaren. Sie schreibt, das Wintermärchen sei ein Stück über ein Findelkind und: "Auch ich bin eines". Für sie ist Shakespeares Theaterstück ein Lieblingstext, der sie seit mehr als dreißig Jahren begleitet. In ihrem literarischen Werk lassen sich wiederkehrende Themen ausmachen, darunter Inzest und leidenschaftliche Liebe, die in den Missbrauch übergeht.

Sie stattet ihre Figuren mit Hintergrundgeschichten und psychischen Beschädigungen aus. So lieben sich Leontes und Polixenes seit ihrer Internatszeit und kommen aus dysfunktionalen Familien. Nach einem Zeitsprung von sechzehn Jahren befinden wir uns im London nach dem Börsencrash, in einem dysfunktionalen sozialen und ökonomischen Umfeld. Und über allem steht die Familie, was diese ausmacht, Blutsbande, die bewusst von einem Mitglied der biologischen Familie getrennt werden, ein loses Ende wird mit einem anderen, anfangs fremden Band zusammengefügt, ebenfalls bewusst, und entwickelt eine Stärke, die es dicker als Blut werden lässt. Shep gewinnt gegenüber der Vorlage enorm an Bedeutung und ist die liebenswerteste Figur des Romans.

Bei Shakespeare ist die Atmosphäre im Gegensatz zu Winterson zu Beginn freundlich. Der erste Teil wird aber schnell zu einer an "Othello" erinnernden Eifersuchtstragödie, die das eingespielte Gefüge zerstört. Es folgt eine Romanze, und der Dichter erzeugt kurz vor Schluss eine weitere Bruchstelle, damit gegen die Wahrscheinlichkeit ein glückliches Ende möglich ist. Winterson macht es sich hier nicht so leicht, eine gelebte Biographie lässt sich bei ihr nicht so einfach neutralisieren. Deshalb überzieht die Autorin ihre Coverversion am Ende mit Süßem.

Eine Lektüre unabhängig von der Vorlage ist natürlich möglich, jedoch erhöht sich der Lesegenuss, wenn man das Stück bereits kennt, weil Winterson einige Bezüge herstellt, die nicht alle so offensichtlich sind wie die auf James Dean und seinen Film "...denn sie wissen nicht, was sie tun". Wer gerne Sprüche für das Poesiealbum liest -

 

"Trauer heißt also, mit jemandem leben, der nicht da ist."

 

- wird bei Winterson ebenso fündig wie Freunde paradoxer Konstruktionen:

 

"Wir können's nicht, weil wir's nicht tun, und wir tun's nicht, weil wir's nicht können."

 

Jeanette Wintersons Roman Der weite Raum der Zeit, eine schöne Neuerzählung des Theaterstücks "Das Wintermärchen" von William Shakespeare, ist zugleich ein typisches Werk einer idiosynkratischen Schriftstellerin.

Der weite Raum der Zeit

Jeanette Winterson, Albrecht Knaus

Der weite Raum der Zeit

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