Neringa oder Die andere Art der Heimkehr

  • Mare
  • Erschienen: Januar 2016
  • 2
  • Hamburg: Mare, 2016, Seiten: 288, Originalsprache
Neringa oder Die andere Art der Heimkehr
Neringa oder Die andere Art der Heimkehr
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Sebastian Riemann
841001

Belletristik-Couch Rezension vonJun 2016

Moderner psychologischer Roman. Eine Perle.

Den großen psychologischen Malkasten hat Stefan Moster ausgepackt, um seinem Publikum die ganze Farbpalette der menschlichen Seele darzubieten, in vielen Farben, Schattierungen und sich ergänzenden Farbtupfern stellt er schwungvoll dar, was meist langsam und präzise, mit viel Sorgfalt gezeichnet wird. Ungemein unterhaltsam ist das Resultat, mit vielen Sprüngen und sich überlagernden Schichten, zwischen denen man suchen und finden kann. Es ist das Porträt eines nicht mehr ganz jungen Mannes, den verschiedene Vergangenheiten durcheinanderwerfen. Eigene Erinnerungen und familiäre Erinnerungen vermischen sich dabei, bringen den Protagonisten und mitunter auch den Leser um den Überblick. Am Ende bleibt einiges im Dunkeln und regt an, eins und eins und eins zusammenzuzählen. Selten sind psychologische Romane so anregend, vollbringen den Spagat zwischen Unterhaltung und komplizierter Schichtung der Persönlichkeit.

Großvater Jakob war Pflasterer, er legte in seiner Heimatstadt in der deutschen Provinz hölzernes Pflaster aus. Ein solider Mann, bodenständig, tüchtig und gewissenhaft bei der Arbeit, manchmal jedoch das Opfer von Wut. Einmal versuchte er seine Frau zu töten. Nicht geplant, nicht berechnend, sondern im Affekt, weil sie ihm furchtbar auf die Nerven ging, so dass er einen Schornstein nach ihr warf. Kurzschlusshandlung. Aber eigentlich war Opa Jakob ein ruhiger und geselliger Mann, so zumindest wird er in Erzählungen dargestellt und so erinnert sich der Protagonist des Romans an den alten Pflasterer. Ein durchaus liebenswerter Mann. Ein liebenswerter Opa. Und jemand, der etwas hinterlässt, der gute Handwerksarbeit ausführt, die Jahre und Jahrzehnte später noch für die Welt ersichtlich und nützlich ist. Auf seinen Pflasterwegen gingen die Leute und gehen sie heute noch.

Der Erzähler arbeitet in London, ist sehr erfolgreich, macht gutes Geld, könnte man sagen, aber nein, so gut ist das Geld nicht, was er macht, es ist nur ziemlich viel. Mit großen Aufträgen und großen Summen hat er zu tun. Seine Arbeit versteht er gewissenhaft und zu aller Zufriedenheit zu erledigen, beschert seinem Unternehmen viel Gewinn. Für ihn fallen üppige Bonuszahlungen dabei ab. Finanziell läuft es bestens, er hätte allen Grund glücklich und zufrieden zu sein. Aber Geld allein macht nicht glücklich, der Mann ist allein, scheint keine nennenswerten Freunde zu haben, die Familie lebt in Deutschland. Und er hasst sich selbst. Nicht immer, aber doch hin und wieder, in Anfällen, die ihn aus der Bahn werfen, seine einfache Welt zum Einsturz bringen. Er wird dann kurz wütend, vermasselt alles und kann sich dann selbst nicht mehr ertragen. Seit seiner Jugend erlebte er solche Momente, die ihm das Zusammensein mit anderen manchmal schwer machen. Deshalb machte er eine Therapie, das wollte seine Freundin so. Über mehrere Jahre hinweg legt er sich in einem kleinen Zimmer in einer Hinterhofwohnung in München auf die Couch, während hinter ihm der Therapeut saß und Notizen machte, zu dem, was ihm der Erzähler auf der Couch erzählte.

Unzufrieden ist der Erzähler. Er kann nicht sagen, was ihn stört an seinem Leben, aber es fehlt ihm etwas. Gern und mit viel Interesse denkt er an seinen Großvater, denkt über dessen Leben nach, versucht sich Jakob in seinem Alltag und auch in außergewöhnlichen Situationen, wie dem zweiten Weltkrieg, vorzustellen. Es drängt ihn hin zum Großvater, zu dessen Sein und Handeln. Folgerichtig und konsequent ist es da nur, dass er Nachforschungen bezüglich des alten Pflasterers Jakob anstellt, um dem Großvater näher zu kommen. Er besucht Orte, an denen Jakob als Soldat war und besucht die alte Heimat auf der Suche nach Spuren.

Dreifache Vergangenheit: Episoden aus dem Leben Jakobs, so wie sie sich der Erzähler vorstellt, Besprechung der Vergangenheit auf der Couch des Therapeuten und die Suche nach den Spuren des Ahnen. Stefan Moster zeigt unterschiedliche Wege auf, wie man auf das Vergangene zugehen kann, und zu welchen Problemen dies führen kann. Denn es kommt zu Verschiebungen und zu Überlagerungen, zu Korrekturen, weil eine Form der Vergangenheitsbewältigung einer anderen Form widerspricht, ihr den Boden unter den Füßen wegzieht. Es gibt allerhand falsche Pisten, man meint, manchmal zusammen mit dem Erzähler, dass man Zusammenhänge versteht zwischen dem Mann in London, der ein neues Leben oder neuen Sinn im Leben sucht, und dem Großvater in der Provinz, doch dann werden diese allzu einfachen Annahmen über den Haufen geworfen und mit neuen Aspekten der Vergangenheit und der Gegenwart konfrontiert. Es ist ein vielfältiger, auf höchst interessante und unterhaltsam Weise verwirrender Roman, in dem ein einfacher Mann das Glück sucht.

Neringa hilft bei der Suche, sie war die Putzfrau des Erzählers und spielt die Rolle der Einfachheit. Sie ist zufrieden mit ihrem Leben, in dem es an Geld, aber nicht an persönlichem Glück fehlt. Aus Litauen kam sie nach London, um dort ein neues Leben zu beginnen. Trotz Unannehmlichkeiten ist sie zufrieden, sieht und sucht das Positive in ihrem Dasein. Ein Gegenpol zum verstörten Deutschen, der Geld macht, dem Glück aber fern bleibt.

Stefan Moster ist ein Buch gelungen, das viel Psychologie und Unterhaltung zu verbinden weiß. Das gibt es selten. Die meisten psychologischen Romane sind noch immer an die Zeitgenossen Freuds gerichtet und gehen von einem naiven Leser aus, den man mit Geheimnissen aus der Welt des Unbewussten begeistern kann, so wie man kleine Kinder mit einem Tischfeuerwerk begeistern kann. Moster hingegen gestaltet die Sache anspruchsvoller und dadurch interessanter. Es gibt Widersprüche und Ungereimtheiten, Andeutungen, die den Leser herausfordern. Neringa ist ein Genuss besonderer Güte, da schaut man auch mehr als wohlwollend über diesen einen psychologischen Baustein hinweg, der wichtig im Konstrukt ist, aber wenig raffiniert eingebaut wurde. Kann man nur empfehlen und sollte jedermann weiterempfehlen.

Neringa oder Die andere Art der Heimkehr

Stefan Moster, Mare

Neringa oder Die andere Art der Heimkehr

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