Die Gestirne

  • London: Granta Books, 2013, Titel: 'The Luminaries', Originalsprache
  • München: Der Hörverlag, 2015, Seiten: 4, Übersetzt: Sascha Rotermund, Bemerkung: ungekürzte Lesung
Die Gestirne
Die Gestirne
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Almut Oetjen
771001

Belletristik-Couch Rezension vonApr 2016

Mystische Verbindungen

Am 27. Januar 1866 erreicht ein freundlicher Fremder, Walter Moody, mit der Bark Godspeed Neuseeland. In der Goldgräberstadt Hokitika mietet er sich im Crown Hotel ein. Er ist aufgewühlt von Geschehnissen während seiner Seereise und trifft in dieser Stimmung im Raucherzimmer des Hotels auf zwölf Männer, die sich anfangs verhalten, als hätten sie nichts miteinander zu schaffen. Thomas Balfour erzählt Moody von den Ereignissen, die sie hier zusammengeführt haben. Vor drei Wochen ist einer der reichsten Männer der Stadt verschwunden, nachdem er die Nacht mit einer Hure verbracht hatte. Die Hure wurde so gerade noch lebend aufgefunden. Jemand hatte ihr eine hohe Drogendosis verabreicht, und sie konnte sich an nichts erinnern. Weiter wurde ein zurückgezogen lebender Grundbesitzer in seiner Hütte tot aufgefunden. Er starb offenbar auf natürliche Weise, die Hütte voller Gold.

Sonne, Mond und Sterne

Vordergründig liest sich Die Gestirne, Eleanor Cattons zweiter Roman, wie ein historisches Werk, in Sprache, Stil, Struktur, Themen, Handlungsort und zeit, nicht wie ein modernes Buch, dessen Handlung in eine lang vergangene Zeit verlegt wurde, sondern als käme es aus einer zurückliegenden Zeit. Die allwissende Erzählinstanz wechselt zwischen den verschiedenen Figuren, pausiert zwischendurch, um über das Geschehen nachzudenken, es zu kommentieren, die Leser auf ihnen entgangene Details hinzuweisen, sich für eine Abweichung oder eine Kürzung zu entschuldigen. Immerhin hat der Erzähler wenig Geduld mit dem erzählenden Balfour, weshalb er sich für dessen wenig ausgeprägte erzählerische Fähigkeit bei uns entschuldigt und aushilft. Dadurch erfahren wir etwas mehr über die anderen Figuren und darüber, was sie so denken.

Jeder der zwölf Teile dieses Romans beginnt mit einem astrologischen Datensatz und einer Karte. Der astrologische Kalender für den Zeitraum, in dem die Handlung spielt, wird verwendet, die Eigenschaften der Figuren und deren Verbindung untereinander zu bestimmen. Jede Hauptfigur ist einem astrologischen Konzept zugeordnet, entweder einem Sternzeichen oder einem der sieben Himmelskörper. Für alle werden Symmetrien zur Erde erzeugt. Der Text beginnt mit einem planetarischen Walter Moody. Der kommt bald mit den zwölf Sternen zusammen. Die zwölf Sternbild-Charaktere sind allesamt Männer, auf die sich die Rolle des traditionellen Detektivs verteilt. Damit ist Die Gestirne eine Mysteryerzählung, in der es mehr Ermittler als Verdächtige gibt.

Im Verlauf der Handlung geraten die Sternbild-Figuren langsam in den Hintergrund, und die Planeten-Figuren nach vorne. Die Detektionsarbeit geht an Walter Moody über, der rational ermittelt. Weiter zeigt sich, dass für die Geschichte eine Liebesbeziehung von Bedeutung ist. Sie erzählt von zwei Menschen, die die Sonne und den Mond repräsentieren. Diese Liebesgeschichte dürften viele Leserinnen unmittelbarer wahrnehmen als die stark konstruierte Kriminal- und Abenteuergeschichte. Die beiden Gestirne sind die Luminaries des Originaltitels, Sonne und Mond, in mystischer Verbindung.

Jedes Kapitel beginnt mit einem Absatz, der das Kommende zusammenfasst. Wie ein abnehmender Mond werden die einzelnen Kapitel immer kürzer, von 453 bis vier Seiten. Charaktere treten zu Beginn als ihr Schicksal selbst bestimmend auf und erweisen sich in der Folge als durch eine höhere Kraft gesteuert. Dadurch werden besonders zwei Dinge klarer: die Einstiegsszene mit ihrem bühnenhaften Charakter und die metafiktionale Durchdringung der Erzählung, die auch über das Erzählen reflektiert. Die Erzählung selbst hat etwas vom Theater, das auf seine Inszenierung verweist. Catton fordert die Leser auf, ihre Annahmen über Figuren, Begründungen und Handlungsentwicklungen zu hinterfragen.

Die Protagonisten machen allerhand mit, darunter Giftanschläge und Feuerwaffenbeschuss. Es wird betrogen und gelogen, dass sich die Seiten falten. Die kranke und opiumabhängige Prostituierte Anna Wetherell wird mit schweren Verletzungen ins Gefängnis gesperrt, dessen Hüter Shepard ein ausgebildeter Weltversteher im klaren Schwarz-weiß-Modus ist. Aber natürlich ist sie nicht, was sie scheint, sondern entspricht mehr dem viktorianischen Prinzip von Heiliger und Hure.

Die beiden Liebenden sind Opfer von menschlichen Machenschaften und einem höheren Schicksal. Am ertragreichsten gestaltet sich der Lesevorgang vermutlich, wenn man die ganze Zeit über den Rechner oder das Tablet, oder... - neben sich stehen und Google oder seine Suchmaschine der Wahl geöffnet hat, um Dinge nachzusehen. Mag sein, der Roman wurde auf ähnliche Weise geschrieben, dann wird er wohl auch so zu entschlüsseln sein. Nachdem man über Internetrecherche Fragen geklärt hat, kann man im Buch vor- und zurückgehen, Verbindungen herstellen, die vorher nicht klar waren. Dazu gehört sicher auch, was es mit dem Stein der Maori und dem Goldrausch in Hokitika, Neuseeland, auf sich hat, die an eine sich entwickelnde Stadt aus einem Western erinnert. Vieles, sehr vieles, müssen wir auf diese Weise herausfinden, wenn wir nicht nur an der Oberfläche des Plots bleiben wollen, weil es uns die allwissende Erzählinstanz nicht zur Kenntnis bringt, was natürlich kein Vorwurf an diese ist. Jeder der zwölf Männer verfügt über einen Ausschnitt dessen, was sich zum wichtigen und großen Ganzen fügen kann.

Ohne spezielle Kenntnisse ist der Roman in seinen Tiefenschichten nicht zu verstehen. Alles hängt irgendwie zusammen, scheint sich zu einer großen Verschwörung auszuwachsen, in deren Zentrum sich astrologische Karten befinden, die man zwar mit Interesse anschauen kann, aber dem Verständnis bei einer einmaligen linearen Lektüre verschließen sie sich. Ob er in Konstruktion, Erzählung und beider Verbindung konsistent ist oder einige Mängel und vielleicht auch Fehler aufweist, das bedarf einer Detailanalyse, die über eine Rezension hinausgeht.
Catton parodiert mit Die Gestirne, für das sie 2013 den Man Booker Prize erhielt, den Roman des 19. Jahrhunderts.

Die Gestirne

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