Frohburg

  • Frankfurt am Main: Schöffling & Co., 2016, Seiten: 1008, Originalsprache
Frohburg
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Sebastian Riemann
901001

Belletristik-Couch Rezension vonApr 2016

Achtung! Erzähllawine

Man sollte seinen Sicherheitsgurt anlegen und noch einmal tief Luft holen, bevor man Frohburg liest, das bombastische Erzählwerk von Guntram Vesper, welches dieser Tage in den Buchhandlungen erschien und mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Es ist groß und voll und geht in alle Richtungen. Dergleichen findet man nicht so leicht, liest man nicht alle Tage. Als Leser wird man schnell gefangen genommen und umher geworfen, durch Zeiten, Orte und allerlei Handlungen, die mal mehr, meistens aber weniger miteinander verbunden sind. Dabei hat man immer wieder das Gefühl den Überblick zu verlieren, bis man zu dem Punkt kommt, da man sich eingesteht, zu keinem Zeitpunkt einen Überblick gehabt zu haben. Und dann fängt der Spaß mit Frohburg erst richtig an.

Frohburg liegt zwischen Leipzig und Chemnitz, vor dem Erzgebirge, und ist der Geburtsort des Autors, der bisher als Lyriker bekannt war und sich nun der Prosa zugewandt hat. Dort verbrachte Guntram Vesper seine Kindheit, bevor die Familie aus der DDR in den Westen floh. Seit vielen Jahren lebt Vesper nunmehr in Göttingen, jedoch ließ ihn die alte Heimat nie los, er fühlte sich stets zu ihr hingezogen. Gedichtbände über seine sächsische Kleinstadt veröffentlichte er in der Vergangenheit und nun ist ihm mit dem erzählerischen Koloss von Frohburg noch der ganz große Wurf gelungen, er überzeugt auf ganzer Linie und belebt die Vergangenheit des Örtchens im Rahmen großer Ereignisse, so dass dieses Buch nicht nur viel Lokalkolorit zu bieten hat, sondern auch Zeitgeschichte.

Während des zweiten Weltkrieges nahmen die Dinge in Frohburg ihren Lauf, so wie andernorts verloren die Familien ihre Väter und Söhne an den Krieg, Not breitete sich aus und dann nach dem Zusammenbruch, wie die Bewohner sagen kamen die Russen, installierten sich in den Kleinstädten der Gegend und gaben fortan den Ton an, direkt und militärisch oder indirekt mittels der örtlichen Parteifunktionäre. Diese beiden Epochen geben die Bühne für die meisten Geschichten, die im Buch erzählt werden, daneben gibt es jedoch noch viele Abschweifungen in andere Zeiten und Orte. Meist ist der Vater des Erzählers beteiligt, sei es als agierende Person oder als Erzähler oder Zuhörer. Als Landarzt kam er viel herum, lernte viele Menschen in der Gegend kennen und war auch an heiklen Situationen mysteriöse Morde und ihre Aufarbeitung beteiligt. Manchmal unterhält er sich schlichtweg mit jemandem und lässt sich Geschichten über die Bewohner der Städtchen erzählen, denen er und der Leser aufmerksam zuhört.

Vesper ist ein wilder Erzähler, er kümmert sich nicht um Romanstrukturen oder klare Trennlinien, vielmehr hebt er Grenzen zwischen einzelnen Erzählungen auf und schafft ein großes, organisches Ganzes, welches seinen Launen folgt und beständig die Richtung ändert. Aus einer Geschichte fällt der Leser in die nächste in die nächste in die nächste und weiß bald nicht mehr, wer hier eigentlich erzählt und wer zuhört und wie die letzte Geschichte mit der vorvorletzten Geschichte zusammenhängt. Aber diese Verwirrung hindert nicht am Vergnügen des Lesens, da die einzelnen Erzählstränge sich doch immer wieder mit älteren Strängen verbinden, einen Teil hinzufügen, bevor sie abgelöst werden und einem neuen Kapitel den Platz überlassen. Die Lektüre wird zum Erlebnis, sie gewährt keine geordnete Übersicht, sondern einen allzu menschlichen Einblick in die Biografien vieler Menschen, die miteinander verbunden sind.

Die Themen in Frohburg sind so vielfältig wie die Personen und Zeiten. Sie reichen von streng überwachtem Uranabbau über religiöse Sekten bis hin zu Eifersuchts- und Betrugsszenen. Das alles schafft einen sehr lebendigen Einblick in die Dynamik des Ortes, in die Entwicklung und die Veränderungen, die mit den großen Zeitgeschehnissen kamen. Bereichert wird dies durch regelmäßige Einschübe des sächsischen Dialektes, der dem Ganzen eine zusätzliche Note Authentizität verleiht.
Als Leser muss man sich lediglich daran gewöhnen, dass man manchmal nicht weiß, wo oben und unten sind, und schon wird man Teil des Frohburger Lebens, seiner Vielfalt und der großen Unterhaltung, die es zu bieten hat. Guntram Vesper ist ein wirklich außerordentliches Buch gelungen, das aufgrund seiner erzählerischen Masse und Geschwindigkeit einen besonderen Platz in der deutschen Literatur einnimmt und sich nur schwerlich vergleichen lässt.

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