Der Blick aus dem Fenster

  • Diogenes
  • Erschienen: Januar 2015
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  • Zürich: Diogenes, 2015, Seiten: 112, Originalsprache
Der Blick aus dem Fenster
Der Blick aus dem Fenster
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Sebastian Riemann
711001

Belletristik-Couch Rezension vonMär 2016

Vorstellung der Vorstellungen

Das Hinübergleiten in die Welt der Vorstellungen ist eine wunderschöne Sache, sie befreit vom Alltag, von den Gesetzen der profanen Welt und ihren Problemen, während sie im Gegenzug unbegrenzte Möglichkeiten anbietet. Es ist der Sieg des Einzelnen, der seinen Geist entfaltet und in sich eine neue Realität erschafft. Ein Quell der Kreativität und großen Glücks. Und letztlich macht es jedermann hin und wieder, lässt die Gedanken treiben und abschweifen in Regionen jenseits des Nötigen und Schweren, dorthin wo die eigenen Fantasien Wohlgefühl erzeugen und Entspannung bieten.

Die Kraft der Vorstellung ist in den meisten Fällen etwas Positives und gesellt sich manierlich zum rationalen Denkapparat. Sie kann jedoch auch in andere Richtungen gehen, den Geist zu weit von der Realität entfernen, ihn irreführen und täuschen. Dann spricht man von Halluzinationen oder von Psychosen, Ärzte werden hinzugerufen, Medikamente und Therapien verschrieben. Denn jene Abschweifungen sind schwerwiegend und gefährlich, müssen behandelt werden, weil sie sonst Schaden anrichten können in der fantasierenden Person. Wehren muss man sich gegen sie, sie abwehren. Das Wohlbefinden und Glück eines Menschen hänge nämlich zu großen Teilen von seiner gesunden Verbindung zur Realität ab.

All dem widerspricht Hartmut Lange in seinen neuen Erzählungen. Er zeichnet ein anderes Bild von Vorstellungen, Fantasien und Realitätsverlust.

Die Figuren in den kurzen, unterhaltsamen Texten von Lange halten die Zügel ihrer Vorstellungskraft locker in der Hand, und darin gleichen sie ihrem Schöpfer. Sie sind einsame Menschen, die sich leicht verleiten lassen und scheinbar besorgniserregende Ereignisse in ihrem Leben mit Ruhe hinnehmen, solange sie ihnen etwas versprechen. Doch sind sie weit entfernt davon, dem Leser als Kandidaten für den Psychiater zu gelten. Vielmehr entwickelt man Verständnis für diese Personen und folgt ihnen bereitwillig in ihre eigene Logik, um am Ende die Vorstellung als vermeintliche Erlösung und Seelenheil zu finden. Eine ungewöhnliche und abwechslungsreiche Sichtweise.

In der ersten Erzählung begegnet der Leser einem Ministerialbeamten, welcher zu oft in einem Katalog blättert und immer bei dem selben Bild stehen bleibt, da es ihm große Ähnlichkeit mit einem Ausschnitt seines Lebens zu haben scheint. Es zeigt einen Ausblick, der dem Ausblick vom Balkon seiner Wohnung gleicht. Darauf sind Kutschen zu sehen und eine wartende Frau. Eines Tages beginnt der Beamte vom Balkon aus die Kutsche und die Frau auf dem Platz vor seinem Haus zu sehen, was er eindeutig als Halluzination erkennt. Energisch versucht er dem Geschehen Einhalt zu bieten, versucht seinen Verstand wieder ins Lot zu bringen, da es für ihn keine Zweifel daran gibt, dass es diese Kutsche und diese Frau nicht außerhalb des Bildes im Katalog geben kann. Sich selbst will er zur Vernunft bringen, möchte man meinen. Allerhand Vorkehrungen trifft er, um den wiederkehrenden Erscheinungen zuvorzukommen. Aber es hilft nichts, er kann sich nicht dauerhaft dem Treiben seiner Fantasie entziehen und gibt nach. Der Ministerialbeamte, der nur für seine Arbeit lebt und keine Freunde oder gar eine Frau hat, kleidet sich elegant und bereitet sich auf ein Treffen mit der schönen Frau vor, die der Kutsche vor seinem Haus entsteigt und dort wartet.

Der Segen für den einsamen Beamten ist offensichtlich, er kann einem traurigen Aspekt seiner Wirklichkeit entfliehen, indem er seinen Vorstellungen nachgibt. Doch anstatt das Ganze von einer besorgniserregenden Warte zu betrachten, stellt der Autor Lange den Leser neben jenen Beamten und zeigt, wie süß die Verführung ist und wie schön die Erfüllung. Und dann lässt er das Ende offen, um dem Leser keine Antwort schuldig zu bleiben, und um der Vorstellung nicht die Kraft zu nehmen. Sehr interessant und unterhaltsam ist das, weil man es nicht erwartet und selbst nicht weiß, wie man zur Sache steht.

Eine ganze Versammlung von Toten gibt es in einer weiteren Geschichte, da ein Mörder zusammen mit seinen Opfern am Strand der irischen See steht, mit ihnen streitet und aufs Meer schaut. Es waren die Wellen gewesen, die ihm damals den Verstand raubten, ihn durch ihren Lärm in einen Zustand versetzten, der nicht mehr zu kontrollieren war, woraufhin er mehrere Personen in der Nähe tötete. Aber eigentlich war er an den Strand gefahren, um sich zu erholen und den Stress des Alltags zu vergessen. Das Meer war schuld, aber so richtig glauben sie ihm das nicht. So wie man nicht glauben will, dass sich eine Statue ohne Hilfe bewegen kann, aber in den Erzählungen Langes ist es dann doch möglich. Dort bewegt sie sich die schwere Statue, erst unscheinbar, so dass man denkt, sie wurde bewegt, aber dann blättert man um zur nächsten Geschichte und liest dort über das triste Dasein eben jener Statue, die sich furchtbar langweilt und Sehnsucht hat, während sie in einem engen Gartenhäuschen eingesperrt ist, weil niemand für sie Verwendung hat. Wehmütig schaut sie aus dem Fenster und sieht das Meer. Bis sie es nicht mehr aushält im öden Schuppen und los macht.

Vielfältig sind die fantasiereichen Erzählungen von Hartmut Lange, sie drehen und wenden das Thema in viele Richtungen und vermögen den Leser mehrfach zu verblüffen. Leicht und unbeschwert sind sie und das passt gut zu diesem schwer greifbaren Thema. Eine kurze Lektüre mit Charme und Witz.

Der Blick aus dem Fenster

Hartmut Lange, Diogenes

Der Blick aus dem Fenster

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