Ohrfeige

  • Hamburg: HörbuchHamburg, 2016, Bemerkung: Julia Tieke (Bearbeitung), Claudia Johanna Leist (Regisseur)
Ohrfeige
Ohrfeige
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Sebastian Riemann
801001

Belletristik-Couch Rezension vonMär 2016

Die Wirren des Flüchtlingsdasein

Frau Schulz, die Stellvertreterin des deutschen Staates und der deutschen Bürokratie, wird auf ihrem Stuhl geknebelt und gefesselt. Sie muss den Preis zahlen für die in den letzten Jahren gefällten Entscheidungen. Asylanträge bearbeitet sie. Jeden Tag sitzen ihr Menschen aus anderen Ländern gegenüber und sind abhängig von ihr. Sie hoffen auf ein besseres Leben in Deutschland und zittern vor Frau Schulz, die niemals lacht, sich nicht für die Sorgen und Ängste der anderen Menschen interessiert. Mit Formularen und Stempeln bewaffnet verändert sie die Leben vieler hoffender und bangender Menschen, ihr Verteidigungsschild sind die Gesetze. Mitleid kennt sie nicht. Die Biografien der Asylsuchenden interessieren sie nicht. Sie will nichts hören von langen Reisen, Gefahren im Heimatland und Ambitionen für die Zukunft. Frau Schulz ist die personifizierte Bürokratie, kalt und steril, eine Maschine mit Funktionen aber ohne Verständnis. Und sie wird geknebelt vom Erzähler, damit sie ihm endlich zuhört, damit er endlich seine Geschichte erzählen kann, für die sich Frau Schulz nicht interessiert.

Eigentlich sollte er in Paris landen. Soweit hatte die Familie bezahlt. Von Bagdad nach Paris, wo der Onkel warten würde. Aber dann kam es anders und der junge Mann stand plötzlich in der deutschen Provinz zwischen Acker und Wald. Die Schlepper laden ihn aus, drücken aufs Gas und sind sogleich verschwunden. Die Ratschläge des Vaters befolgend versucht der Protagonist sich zu tarnen, wird jedoch von den ersten Polizisten, die seinen Weg kreuzen, aufgegriffen und in eine Gefängniszelle gesteckt. Dort untersuchen sie ihn sehr gründlich, nehmen ihm sein Bargeld ab und verängstigen ihn, da sie ihm nichts erklären, ihn vielmehr umherschubsen und mit wenig Interesse behandeln.

Nach dem unglücklichen, abenteuerlichen Start im falschen Teil Europas, folgt der langwierige Prozess der Asylanerkennung. Warten, warten, warten. Den Antragstellern ist in dieser Zeit nahezu nichts erlaubt, sie bekommen ein Bett im Asylantenheim zugewiesen, dazu ein bisschen Taschengeld und einen Anhörungstermin, bei dem sie ihr Anliegen vortragen müssen. Wenn sie den Richter überzeugen können, werden sie als Flüchtlinge anerkannt und dürfen bleiben. Wenn ihre Gründe nicht ausreichen, werden sie abgeschoben. Es gilt entsprechend überzeugend zu sein. Unter den Wartenden im Heim berät man deshalb, was man dem Richter am besten erzählt, damit man anerkannt wird. Nicht jeder Iraker wird genommen. Hat man jedoch Saddam Hussein beleidigt, ist man auf der sicheren Seite vor dem deutschen Richter. Das Leben wäre in unmittelbarer Gefahr, wenn man wieder irakischen Boden betritt.

Abbas Khider erzählt vom Alltag des Wartens und Hoffens, vom Leben im Abseits. Die vielfachen Einschränkungen ermöglichen den Flüchtlingen keine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Dasein im neuen Land, sondern verdammen sie auf die Zuschauertribüne. Sie sind eingeschränkt und ihre Freuden meist einfach und klein. Der Protagonist will etwas Geld sparen für eine Operation und will endlich einen Deutschkurs besuchen, um seine Möglichkeiten zu verbessern. Es sind viele kleine Schritte, die er machen muss, damit er seinem Ziel, einem normalen Leben, so wie er es bei all den anderen Menschen sieht, näherkommen kann. Andere Flüchtlinge ertragen die lange Zeit der Passivität nicht so gut, werden kriminell oder religiös. Und 9/11 hilft der Sache der Flüchtlinge aus muslimischen Ländern auch nicht weiter. Vielmehr werden sie unter Generalverdacht gestellt und weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Bei vielen liegen die Nerven blank, sie ertragen die permanente Spannung nicht.

Man muss den Autor für seine differenzierten, ungeschminkten Darstellungen loben. Er wagt viel in einer Zeit, da das Thema der Flüchtlinge in Deutschland nicht überlegt, sondern übertrieben polemisch diskutiert wird. Seine Figuren sind allzu menschlich, leiden unter den Bedingungen, betrügen hier und da, wenn es ihnen hilfreich ist, machen sich ihre Gedanken über irakische und deutsche Frauen, sind betrunken und zu laut, suchen Freunde und Perspektiven, verzweifeln und werden wütend. Ein interessanter und unterhaltsamer Einblick in das Leben von Menschen, die in Deutschland leben, aber noch nicht angekommen sind.

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