So fängt das Schlimme an

  • Argon
  • Erschienen: Januar 2015
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  • -: Alfaguara, 2014, Titel: 'Así empieza lo malo', Originalsprache
  • Berlin: Argon, 2015, Übersetzt: Stephan Benson, Bemerkung: gekürzte Ausgabe
So fängt das Schlimme an
So fängt das Schlimme an
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Claire Schmartz
791001

Belletristik-Couch Rezension vonFeb 2016

ein richtiger Brocken

"Wenn wir uns der Vergangenheit nicht stellen, wird alles Leben aus der Lüge kommen".

Es muss etwas Furchtbares geschehen sein. Etwas Schlimmes. Die Ehe zwischen Eduardo und Beatriz ist in einer Krise, doch die Ursache ist ein Geheimnis. Und was ist das Verfehlen des Doktors van Vechten, den Juan aushorchen soll? Stimmt es, dass man, wie Eduardo Muriel sagt, tiefer nicht fallen könne? Und wenn das Schlimme erst anfängt, dann wird noch so einiges dazukommen...

Juan de Vere ist dreiundzwanzig, als er anfängt für Eduardo Muriel zu arbeiten. Die Arbeit als Privatsekretär für den Regisseur bringt ihn dazu, immer mehr Zeit in dessen Haus und in seinem Freundes- und Familienkreis zu verbringen, so dass Juan schnell zum engsten Vertrauten für Eduardo wird – und gleichzeitig Einblicke in dessen Privatleben erlangt. Eduardo gibt Juan einen Auftrag: Er soll den Doktor van Vechten aushorchen, ihn zu abendlichen Kneipentouren mitnehmen und den 60-jährigen Arzt durch die nächtlichen Exzesse der Achziger aus der Reserve locken. Juan soll herausfinden, ob ein Gerücht, das Eduardo zu Ohren gekommen ist, wahr ist. Das Gerücht jedoch, das Eduardo dermaßen erschüttert, wird nicht verraten. Juan macht sich daran, den Arzt zu befragen und ihn auszuspionieren. Aber nicht nur den Arzt, denn dessen Geheimnis ist nicht das einzige, das den Spannungsbogen bestimmt. Zwischen Eduardo und seiner Frau Beatriz gibt es ebenfalls ein verborgenes Problem. Obwohl die beiden nach außen hin so tun, als sei nichts vorgefallen, wird Juan, der so viel Zeit in der Familie verbringt, immer wieder Zeuge von verletzenden Aussagen Eduardos gegenüber seiner Frau. Auch seine Schlafzimmertür bleibt ihr jede einzelne Nacht verschlossen, was sie nicht daran hindert, vor der Tür auf und ab zu gehen. Doch was ist vorgefallen, das Eduardo dermaßen erschütterte, und Beatriz dennoch an ihn bindet?

Wir befinden uns in den Jahren 1980 in Madrid. Die Scheidung ist noch nicht verabschiedet und zahllose unglückliche Ehepaare wie Eduardo und Beatriz aneinandergebunden. Doch nicht nur die Dominanz der Kirche wiegt schwer auf der Gesellschaft, auch die Nachwirkungen des erst seit Kurzem beendeten Franquismus. Auch wenn die Amnesie die Gräueltaten der Franco-Diktatur vergessen machen will, hat noch immer "fast alles mit dem Krieg zu tun", sagt Eduardo, mit Schuldfragen und Schweigen, mit dem Vergessen und dem Schlechten, das passiert ist, und "gefälschten Biografien"... Das Hamlet-Zitat – "So fängt das Schlimme an, und das Schlimmere bleibt zurück." – wird zum Leitmotiv des Romans. Mit Juan ergründet der Leser, worin das Schlimme denn besteht; im Verfehlen, im Geheimnis, oder in der Ent-Täuschung. Marías in einem Interview mit der Zeit: "Davon handelt auch mein Roman: von solchen notwendigen Konzessionen, von der Möglichkeit, das Schlimme zu akzeptieren, um das Schlimmste hinter sich zu lassen." Und diese findet er nicht nur in den Charakterporträts, sondern auch im allgemeinen Wesen des Ehelebens ohne Ausweg, ohne mögliche Scheidung, oder in der Amnesie nach der Franco-Diktatur.

Was beginnt wie Madame Bovary – mit metikulösen Beschreibungen und Erklärungen – wächst sich schnell zu einem modernen Intrigenroman aus, der durch präzise Beobachtungsgabe besticht. Marías' Duktus bleibt weiterhin langatmig und ausholend, erlaubt sich Klammern oder Einschübe, die oft über Seiten hinfließen. Gleichzeitig sind die Sprache und Bezüge aktuell. Man darf den Roman nicht verdächtigen, alt zu sein, obwohl der Stil überrascht: Wie ein Felsbrocken, der langsam in Bewegung gerät und dann nicht mehr aufzuhalten ist. Menschliche Verfehlungen, Geheimnisse, Täuschungen und Enttäuschungen. Neuigkeiten, Bilder, Kunstwerke, Filme. Auch reale Personen, so der Professor Rico, oder wahre Geschehnisse oder Filme werden eingewoben, so dass die Erzählung wirkt wie das Erinnern eines Mannes, der in seine Jugendjahre zurückblickt und alle Fäden neu spannt, um die Zeitumstände und Charaktere zu erklären.

Marías erlaubt sich – oder dem Protagonisten Juan – das Philosophieren über Wahrheit oder Lüge, über das Eheleben oder die Franco-Diktatur sowie deren Nachwirkungen, aber auch Spekulationen über die Wesenszüge der Figuren oder der Freundschaft. Diese Klammern sind dafür verantwortlich, dass der Roman satte 640 Seiten umfasst, und garantieren zugleich seine Bildhaftigkeit, seine Präzision und seine Nähe. Der Roman ist ein richtiger Brocken. In Schwung geraten, wickelt er die Fäden auf, bringt sie zusammen und reißt sie mit sich, so dass sich So fängt das Schlimme an schnell lesen lässt. Der Roman verschenkt die gesuchten Informationen nicht, handelt es sich doch um Geheimnisse. Und entgegen der Erwartungen angesichts des Covers der deutschsprachigen Ausgabe ist der Roman somit nicht kitschig, sondern spannend und elegant konstruiert.

So fängt das Schlimme an

Javier Marías, Argon

So fängt das Schlimme an

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