Texaco

  • Piper
  • Erschienen: Januar 1995
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  • München: Piper, 1995, Seiten: 477, Übersetzt: Giò Waeckerlin Induni
  • -: Folio, 1992, Titel: 'Texaco', Originalsprache
Texaco
Texaco
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Claire Schmartz
1001001

Belletristik-Couch Rezension vonFeb 2016

feinfühlige Verwebung verschiedener Figuren

Um dem deutschsprachigen Leser den Roman näher zu bringen, muss man sich ihm zuerst geographisch nähern. Dem Ort an dem sich Texaco abspielt ist die Insel Martinique in den französischen Antillen. Martinique ist eine ehemalige Kolonie, heute Überseedepartement Frankreichs – und der Transitionsprozess vom einen zum anderen hat die Geschichte der Insel sowie ihrer Bevölkerung geprägt. Die Hauptstadt der Insel heißt Fort-de-France, an deren Rand sich auf dem ehemaligen Gelände der Mineralölkompagnie Texaco eine "banlieue" aus improvisierten Wohnungen entsteht. Doch dem illegalen Viertel, das der eingesessenen, reicheren Stadtbevölkerung ein Dorn im Auge ist, droht das Ende durch Bulldozer.

Die Erzählerin Marie-Sophie Laborieux ist eine der Bewohnerinnen dieses Viertels. Sie ist eine alte Frau mit Geschichten, die nicht nur ihre eigenen sind, sondern die kollektive Erinnerung der Nachkommen der afrikanischen Sklaven, die nach Martinique gebracht wurden. Sie erzählt die Geschichte der Einwohner Martiniques von der Sklaverei bis in die heutige Zeit – von der Abschaffung der Sklaverei, über die Bildung der ersten Städte, dem Ausbruch des Vulkans Pélé... –, Geschichten die "die Geschichte" bilden indem sie sich begegnen. Hier begegnen sich die "békés", weiße Großgrundbesitzer der Insel; die ursprünglichen "africains" der ersten, versklavten und verschleppten Generation, die von einer ganz anderen Heimat erzählen könnten; die "marrons", entlaufene Sklaven; befreite Sklaven; angehende Politiker; Matrosen; "mulâtres",... die alle die Städte und die Gesellschaft formen und beeinflussen und verändern. Auf Martinique kommen im Laufe der Jahre verschiedenste Kulturen, die afrikanische, europäische und asiatische, zusammen und machen heute die heutige "kreolische Identität" aus.

Die Geschichte, die Marie-Sophie Laborieux erzählt, ist nicht nur ihre eigene. Immer wieder tauchen andere Texte oder Stimmen auf, die sich in ihren Erzählstrang einfädeln oder das Wort ganz übernehmen. Dazu werden verschiedene Erzählebenen vermischt, die einerseits Marie-Sophie Laborieux wie eine Erzählerin, die sich erinnernde, alte Frau erscheinen lassen, andererseits den Autor Chamoiseau wie einen Chronisten, einen Historiker, der Zeugschaft mit höchster Genauigkeit festhält. Geographische Begebenheiten, Hausbau, das Besondere der kreolischen Gärten, Pflanzenkunde oder Gewohnheiten in den "habitations" und "plantations", den Zuckerrohrfeldern. Der Roman Texaco lebt von den vielfältigen Stimmen, der kollektiven Erinnerung. Es ist die Geschichte der Menschen eines Viertels einer Stadt einer Insel, aber gleichzeitig auch die Geschichte der Menschen, der Insel, der Stadt. So zersplittert die einzelnen Stimmen auch sind, kommen sie zusammen, ergeben sie ein großes gemeinsames Bild. Genau diese vereinte Vielfältigkeit spiegelt die Gesellschaft Martiniques. Es ist eine brutale Geschichte der kulturellen Aufpropfung und der Behauptung, des Weiterbestehens. Es ist die Geschichte der Unterdrückung und der Gewalt, aber gleichzeitig des Widerstandes und der Suche nach Identität, der Erinnerung und des Neu-Beginnens, es ist die Geschichte mehrerer Generationen und verschiedener Orte, verschiedener Voraussetzungen und unterschiedlichen Einflüssen. Das können zufällige Geschehnisse oder Begegnungen sein, Umzüge, Auszüge, Fluchten, Überfälle oder Liebe, verschiedene Tätigkeiten, Lebensräume oder verschiedene Gesellschaftsschichten.

Der Roman lebt von der feinfühligen Verwebung verschiedener Figuren, Geschichten, ist lebendig durch die Geschichte und den damit einhergehenden Generationswechsel. Die Episoden greifen nahtlos ineinander über und sind spannend und aufregend und traurig und nah und scheinen durch die Polyphonie ein Porträt der Gesellschaft zu bilden. Somit greift er auf kreolische Ausdrücke und Wörter zurück, integriert die Sprechart der einzelnen Figuren und lässt den Glauben an Magie und Fabel- und Märchenwesen, wie an Zombies oder den "mentô", den wegweisenden alten Weisen, auftauchen.

Texaco erinnert an Salman Rushdies Midnight's children: Beide Romane erzählen anhand des Lebens einzelner Figuren eine größere verwobene Geschichte. Beide Male handelt es sich dabei um die Geschichte der Transition eines Landes unterm Joch des Kolonialismus zur Unabhängigkeit, zur Neuaufteilung und Begründung der Identität. Und diese Identitätssuche ist spannend: Nicht wie die Kolonialmacht muss sie die Identität der Menschen zuerst zerlegen, um sie neu zu konstruieren, nein, sie bringt alle Facetten zur Geltung und verbindet sie in der kulturellen, religiösen ethnischen Vielfalt, wie sie heute Martinique – oder auch Indien und Pakistan – aufzeigt. Diese Koexistenz und Verbindung der verschiedenen Eigenarten führt zu der, - nach Chamoiseau - kreolen Kultur und Gesellschaft. Der Bezug zur kreolischen Kultur lebt auch dadurch, dass der Roman wie eine Erzählung aufgebaut ist, wie ein Märchen, das von einer Generation weitergegeben wurde, bis der Autor Chamoiseau es festhielt. Patrick Chamoiseau ist ein französischer Schriftsteller, der in Fort-de-France geboren wurde. Er studierte in Frankreich und widmete sich nach seiner Rückkehr auf die Martinique der Erforschung der kreolischen Kultur. Texaco erhielt den Prix Goncourt.

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