Man möchte immer weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919

  • Berlin: Aufbau Audio, 2015, Übersetzt: Burghart Klaußner
Man möchte immer weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919
Man möchte immer weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919
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Claire Schmartz
991001

Belletristik-Couch Rezension vonDez 2015

Ein Puzzle des Zeitgeschehens

Victor Klemperer, der bekannt ist für präzise Zeitzeugnisse wie z.B. seine Abhandlung LTI - Notizbuch eines Philologen, das die Sprache des Dritten Reiches und dessen Überbleibsel entdeckt und erklärt, oder seine Tagebücher, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten (1933-1945), hat auch in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg geschrieben.

Eine Sammlung seiner Schriftzeugnisse wurde in dem vorliegenden Werk hervorragend kompiliert und bildet einen Rückblick auf eine spannende, politisch brisante Zeit. Die alltäglichen Beobachtungen Klemperers in München fangen gleichzeitig die großen Ereignisse in Deutschland ein und schildern die politische Ausrichtung der Münchener. So sind es die Menschenblasen, die sich in den Straßen formieren, die Klemperer Aufschluss darüber geben, dass demnächst wieder etwas passieren wird, die Mundpropaganda, die besser funktioniert als die Flugblätter oder Zeitungen, die gekauft, verboten oder nur verspätet zusammengestellt werden könnten - und aus diesem Fundus der mündlichen Berichte schöpfend gelingt es, ein einzigartiges Zeitzeugnis zu erstellen. Klemperer, der an der Universität in München unterrichtet, gerät unweigerlich in die politischen Umwälzungen.

Die vorliegenden Textgrundlagen sind vielfältig, seien es nun Tagebuchausschnitte oder Briefe, Artikel für die "Leipziger Neueste Nachrichten", die Klemperer als "A.B.-Mitarbeiter" signierte, Antibavaricus, denn Klemperer betrachtete die revolutionären Geschehnisse um die Münchener Räterepublik als Preuße mit einem kritischen Auge. Die "Bohème" sei es seinen Erachten nach, die in München an die Macht gekommen sei, Schriftsteller, wie später das Zeugnis Klemperers bestätigen wird, der die Bibliothek des verstorbenen Eisners betrachtet, und hauptsächlich Rezensionsexemplare und Sammelbände, Einführungen zu Themen der Kunst findet. Eisner sei jemand gewesen, dessen Wissensdrang grösser gewesen sei als sein Budget, urteilt Klemperer über den aufstrebenden Politiker. Auch die Kommunisten, die kurz darauf an die Macht kamen, erscheinen Klemperer, der sich selber als eher konservativ beschreibt, unrealistisch und zum Scheitern verurteilt, wie er nach den besuchen von Gesprächen, aber auch dem Versuch der Übernahme der Universität urteilt. Klemperer sieht sich nicht als Journalist, seine Berufung und Leidenschaft ist das Unterrichten. Und dennoch sind seine Artikel, die leider schlussendlich großenteils aufgrund der Langsamkeit der Postwege nicht veröffentlicht werden konnten, und die Einschätzungen bzw. Vorhersagen der Ereignisse oft tatsächlich eingetroffen. Ihm war klar, dass die Schwärmer, die Bohèmiens um Eisner keine Chance haben könnten und stabileren, durchsetzungsfähigeren Politikern weichen müssten. Dass dies über Eisners Leiche geschah, konnte niemand erahnen. Dabei hebt Klemperer stets die besondere Stellung Münchens hervor, die keinesfalls mit der des restlichen Bayerns übereinstimmen müsse. So zeugt auch die Haltung eines bürgerlichen, Münchener Ehepaares, das am Fenster liegend die Straße beobachtet, teilnahmslos, während draußen Menschen mit Waffen passieren, die den Bürgerlichen ihre Privilegien wegnehmen wollen.

Auch der Antisemitismus, der 20 Jahre später verheerende Folgen haben wird, bahnt sich schon an. So schreibt Klemperer, dass Preußen und Juden gleichermaßen verachtet wurden und zu pejorativen Worthüllen wurden, denn fragte man über einen Politiker, der den Münchnern zuwider war, ob dieser nun Preuße oder Jude sei, wäre die Antwort meistens "beides", ungeachtet des Wahrheitsgehaltes. Und immerhin konnte man die Juden für alles verantwortlich machen, den verlorenen Krieg, die finanziellen Schwierigkeiten; und man zögerte nicht, dies auch zu tun.

Der Zusammenschnitt der Texte, die in diesem Werk vorliegt, bereichert die Lektüre: Man findet Tagebucheinträge Klemperers direkt aus der betroffenen Zeit, aber auch welche, die späterhin, in Dresden im Dritten Reich rückblickend, die Ereignisse neu bewerten und kommentieren. So wird aus der Farce, Komödie der politischen Umstürze und Ansprüche im Nachhinein ein Drama, eine Tragödie. Der gleiche Autor, der die anfänglichen Ereignisse bezeugte und vielleicht belächelte, bemerkt im Nachhinein die bitteren Auswirkungen und reflektiert das Vergangene als Ausgangspunkt neu. Denn auch Klemperers Position hat sich, als konvertierter und nunmehr verfolgter Jude, geändert.

Dabei greifen die Texte fast nahtlos ineinander über, manchmal erkennt man, wie sich eine Situation oder Beurteilung nicht geändert hat und wortwörtlich wiederzufinden ist (auch aufgrund der nachträglichen Bearbeitung Klemperers der eigenen Aufzeichnung), an anderen Stellen erkennt man die Neubewertung der einstigen Situation. Doch versucht dieses Zeugnis nicht, Chronik zu sein, es bleibt eine persönliche Schilderung, menschlich und genau. Klemperer erzählt "die" Geschichte als die seine, aus seiner temporären Position und Perspektive, und bringt dem Leser deutlich eine sehr verwirrende Zeit nahe. Klemperer betrachtete die Geschichte als Wirkungen, Zusammenspiele von vielen Faktoren, und wie auch in LTI sind es die Details, die das Puzzle des Zeitgeschehens ausmachen: Flugblätter, Gerüchte, Anschläge, Erzählungen und Augenzeugenberichte.

Man möchte immer weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919

Victor Klemperer, Aufbau Audio

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