Auerhaus

  • Berlin: Aufbau Audio, 2015, Übersetzt: Robert Stadlober
Auerhaus
Auerhaus
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Claire Schmartz
951001

Belletristik-Couch Rezension vonSep 2015

Birth – School – Boom Boom – Work – Death

Frieder hat versucht, sich selbst das Leben zu nehmen und ist in einer Psychiatrie gelandet. Und als er entlassen wird, zieht er nicht zurück zu seiner Familie, sondern in das Haus seines verstorbenen Großvaters. Mit seinen Freunden, um nicht allein zu sein. Niemand von ihnen kann alleine sein. So wird der sich anbahnende, auswegslose Trott aus dem Dorfleben unterbrochen: Boom Boom.

In der Küche gibt es noch eine Abflussrinne für das Blut der geschlachteten Tiere, daneben ein Zimmer ohne Fenster, das anscheinend mal ein Kinderzimmer war. Frieder und seine Freunde haben jetzt ein eigenes Zuhause,. Die Nachbarn taufen es Auerhaus, wie Auerhahn, weil im Dorf kaum jemand Englisch kann und die Jugendlichen stets das gleiche Mixtape laufen lassen, auf dem "Our House" von Madness gleich der erste Titel ist. Das Auerhaus ist ihr zuhause, nicht das bei ihren Eltern, das ihnen fremd geworden ist und wo sie sich nicht wohl fühlten. Hier, im Auerhaus, sind sie frei und erwachsen. Sie sind nicht jene Oberschüler, die sich auf das Abitur vorbereiten und ihr Leben ausschließlich danach ordnen, ob etwa in der Prüfung drankommen kann oder nicht.

Es ist der "Sommer ihres Lebens", und sie reden um Frieders Leben. Sie sind bereits über die Schwelle des Erwachsen-Seins hinübergetreten und müssen noch so viel für sich klären. Frieder und seine Freunde sind wie eine Familie. Sie radeln zusammen zur Schule. Im Winter legen sie Orangenschalen auf den Herd, um zu baden muss eine Wanne in der Küche mit Wasser gefüllt werden, bis der Wasserdampf an den Fensterscheiben perlt. Und die WG wächst, um den schwulen Elektrikerlehrling Harry, der eines Tages einfach in der Küche saß und kiffte, oder um die wunderschöne Brandstifterin Pauline mit der Glatze, die Frieder in der Psychiatrie kennen lernte und für die Emotionen nichts sind als eine Frage des richtigen Hormoncocktails. Das Dorf, die Hühner, der Weihnachtsbaum, Berlin und Musterung, Klauen, Trampen, Vera - Fragen, Entscheidungen und Abenteuer vermengen sich, müssen entschieden werden, nicht verhandelt. Es muss weitergehen.

Nach und nach lässt die dringende Angst, dass Frieder sich umbringen könnte, nach. Auch wenn noch immer nicht alles gefestigt ist, scheinen die Freunde zu merken, dass sie wachsen. Man kann das Buch nur verschlingen, bis die sich auftürmende Welle in der Furore um die Sylvesternacht bricht, ausrollt, schäumt. Boom Boom. Es ist eine einfache Geschichte, die unendlich kompliziert ist – als müsse man versuchen, das Leben zu verstehen, zu entwirren und zu entscheiden. In der Präzision und Knappheit der Beschreibungen birgt sich eine ganz besondere Erkenntnis.

Bov Bjerg zeigt, dass nicht viele Worte fallen müssen, um eine eindrucksvolle Geschichte mit interessanten Charakteren zu schildern, sondern nur die richtigen an der richtigen Stelle. Nach dem Studium der Linguistik, Politik- und Literaturwissenschaft in Berlin und Amsterdam absolvierte Bjerg das Deutsche Literaturinstitut Leipzig. Er ist Begründer verschiedener Lesebühnen und hat bereits für verschiedene Zeitungen bzw. Zeitschriften geschrieben. 2004 gewann er mit seiner Kurgeschichte Howyadoin mehrere Preise und 2008 erschien sein erster Roman, Deadline. Auerhaus ist sein zweiter Roman, der in verblüffend hübscher Aufmachung und mit fabelhaftem Inhalt besticht. Das Buch ist nicht nüchtern, sondern anrührend. Dabei ist es wunderbar, dass das Buch jeden Leser ansprechen kann, Birth, School, Work, Death – die Kette der Reflektionen richtet sich an alle.

Man will nicht in einer Welt leben müssen, in der Leute wie Frieder nicht mehr leben wollen. Man bangt um den Jugendlichen, der "Bauer" genannt wird, aber keiner sein kann. Als Leser fühlt man sich wie ein Mitbewohner dieses Hauses, einsam im Leben vielleicht, doch gleichzeitig willkommen und frei. Man muss nur die Orientierung finden.
Oder die Axt.

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