Altes Land

  • Köln: Random House Audio, 2015, Seiten: 4, Übersetzt: Hannelore Hoger , Bemerkung: gekürzte Lesung
Altes Land
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Rita Dell'Agnese
851001

Belletristik-Couch Rezension vonSep 2015

Schlicht, bezaubernd, eindringlich: Das alte Land erlebbar gemacht

Es ist nicht einfach ein Gebiet erlebbar zu machen, das einen so besonderen Charakter hat, wie das alte Land. Dörte Hansen hat es gewagt. Mit Erfolg. So schlicht, wie der Romantitel Altes Land, so schlicht ist auch die Geschichte. Und genau das macht den besonderen Zauber dieses Romans aus. Die Autorin erzählt auf eine intensive Art von einem Flüchtlingsschicksal, das mit der heutigen Zeit nichts zu tun hat – und doch in einem speziellen Kontext zur heutigen Zeit steht. Im Mittelpunkt des Romans steht Vera. Sie kommt 1945 zusammen mit ihrer Mutter als Flüchtling auf den Hof von Ida Eckhoff. Die alte Bäuerin kann der Einquartierung der Flüchtlinge nichts abgewinnen. Sie beschimpft Hildegard Kamcke und die kleine Vera als Polacken, macht deutlich, dass sie sie hier nicht haben möchte. Und doch: Damit Hildegard Vera ernähren kann, steht ein Krug bereit, um heimlich nachts die Kuh zu melken. Und auch die Obstkammer ist nicht mehr abgeschlossen. Die raubeinige Bäuerin hat einen Narren gefressen an diesem Polacken-Kind, das bis zur Selbstaufgabe erledigt, was man ihr angeschafft hat. Idas Sohn Karl kehrt aus dem Krieg zurück, äußerlich fast unversehrt. Seine Seele aber ist tief verwundet. Er fühlt sich zu Hildegard hingezogen, heiratet sie schließlich – gegen den Willen von Ida. Doch Hildegard mag das Leben im Alten Land nicht. Sie verschwindet nach Hamburg, bekommt ein Kind von einem anderen Mann: Marlene. Vera hingegen lässt sie auf dem Eckhoff-Hof zurück. Jahre später zieht es Marlenes Tochter Anna mit ihrem kleinen Sohn Leon zur Tante auf den Eckhoff. Sie hat ein verletztes Herz, ihr Mann hat sich in eine andere verliebt. Obwohl Marlene mit ihrer Schwester Vera nicht klar gekommen ist, heilt Annas Herz bei der schrulligen Vera. Und auch Vera blüht bei diesem besonderen Zusammenleben auf.

Es sind sehr kantige Charaktere, die Dörte Hansen geschaffen hat. Charaktere aber, die wunderbar zu der Zeit, in der sie leben und handeln, passen. Und zur Gegend, aus der sie stammen, in die sie verschlagen wurden. Mit Ida und Hildegard treffen zwei starke Frauen aufeinander, die eine zerbricht an der anderen. Niemand kommt ungeschoren davon, auch Vera nicht. Das Kind, das von seiner Mutter wenig Nähe bekommen hat, vermag kaum, Nähe zu ertragen. Mit wenigen Worten beschreibt Dörte Hansen unglaublich viel. Das zieht sich über den ganzen Roman hinweg. Das Gewicht liegt auf den einzelnen Charakteren, ihren Eigenheiten, ihrer Entwicklung. Die Handlung tritt zurück in den Hintergrund, macht den starken Bildern Platz. Das dürfte auch ein Ansatzpunkt dafür sein, dass sich einige Leserinnen und Leser mit dem Roman sehr schwer tun. Tempo sollte man sich keines erwarten. Bis zum Schluss erzählt Dörte Hansen zwar von vielen Schicksalen, doch versteckt sich keine abenteuerliche Story hinter der Erzählung.

Altes Land ist ein Roman, der nicht mehr los lässt. Der nachwirkt und zum Denken auffordert. Er will viel von seinen Leserinnen und Lesern. Er verlangt, dass sie sich ihm ganz öffnen, seine Bilder zulassen, seine Aussagen in sich aufnehmen und sich langsam - wie ein Stück Kandiszucker im Tee – auflöst und seine ganze Schönheit entfaltet. Für viele, die das alte Land heute bewohnen und es in der Gegenwart kennen, ist Dörte Hansens Roman auch eine Provokation. Er spricht von Langsamkeit, von verschrobenen, harschen Menschen, von Leuten, die nicht aus sich heraus kommen. Aber es ist die Schilderung einer Zeit, in der sich die Menschen nicht gerne aus ihrer Heimat fort bewegten, in der über viele Jahrzehnte hinweg Dorfstrukturen gewachsen sind und sich kaum verändern konnten. Diese Zeit holt Dörte Hansen mit ihrem Roman noch einmal zurück.

Im Kontext zum aktuellen Flüchtlingsdrama regt dieser Roman schließlich auch dazu an, darüber nachzudenken, wie es Menschen geht, die ihre Heimat verlassen müssen – aber auch Menschen, denen die Fremden aufgezwungen wird. Er macht Verletzungen sichtbar, Ängste, Unverständnis. Altes Land bezieht keine Stellung, wirbt nicht für Verständnis oder Menschlichkeit. Er macht sichtbar, was viele nicht sehen wollen. Und genau dadurch fördert er das Verstehen. Und die Bereitschaft, der anderen Kultur – denen, die ihre Heimat verloren haben – ein wenig Platz zu machen.

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