Jeder Tag gehört dem Dieb

  • München: Hanser Berlin, 2015, Seiten: 176, Übersetzt: Christine Richter-Nilsson
  • New York: Random House, 2014, Titel: 'Every Day is for the Thief', Originalsprache
Jeder Tag gehört dem Dieb
Jeder Tag gehört dem Dieb
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Sebastian Riemann
851001

Belletristik-Couch Rezension vonAug 2015

Die alte Heimat mit neuen Augen sehen

Wer ist es, der da zurückkehrt? Der verlorene Sohn aus dem Westen, aus New York, der viel zu lange seine Heimat vernachlässigt hat. Als Jugendlicher ist er gegangen und als Mann kehrt er zurück, mit neuen Ideen von der Welt und alten Erinnerungen an Nigeria, die dem Wandel der Zeit kaum standhalten können. Er besucht Familie und Freunde und will sogleich das Land prüfen, in dem er aufgewachsen ist, er will sehen, wie es sich entwickelt hat.

Zuerst muss der namenlose Ich-Erzähler sein Visum beantragen, in der nigerianischen Botschaft in New York. Erschreckt stellt er fest, dass eine zusätzliche Gebühr anfällt zur schnelleren Bearbeitung des Antrags, eine Gebühr für die es keine Quittung gibt, die in offiziellen Dokumenten keine Erwähnung findet. Da sein Flug nach Nigeria schon in wenigen Tagen geht, bleibt ihm keine andere Wahl, als das Bestechungsgeld zu zahlen und sich der Korruption zu fügen. Wütend und enttäuscht ist er ob dieser Erfahrung, denn damit hatte er nicht gerechnet, vor allem nicht mit seiner eigenen Unterstützung dieser illegalen Praxis. Die Korruption beginnt noch vor der Einreise und mit ihr kommen Klischees und der schlechte Ruf ins Spiel.

Mehr und mehr Korruption prägt auch die Erlebnisse der Ankunft und der ersten Tage in Lagos. Der Erzähler ist fasziniert und schockiert, wie selbstverständlich und allgegenwärtig die Bestechungsgelder fließen. Scheinbar nichts funktioniert ohne ein paar Scheine, und auch wenn nichts funktioniert, zahlt man jemandem ein wenig Geld, weil er darum bittet oder weil er unangenehm werden könnte. Sogleich wird deutlich, dass der Autor nunmehr US-Amerikaner ist und die frühen Jahre in Nigeria einem Anderen gehören, den es nicht mehr gibt. Sein Verständnis von Ordnung und Recht ist weit entfernt von der nigerianischen Realität.

419, Vorkassenbetrug per Email. Noch so ein Charakteristikum der ökonomischen und kulturellen Wirklichkeit der Hauptstadt, und eine Verbindung zum Rest der Welt. Dabei handelt es sich um jene Emails, die einen auffordern Geld zu überweisen, damit entweder ein Erbe angetreten, Aktien zum Spottpreis gekauft oder einem christlichen Mitmenschen geholfen werden kann. Alles Schwindel und das wissen auch die meisten, aber hin und wieder beißt doch jemand an und verschafft einem jungen Mann in Lagos ein Auskommen für ein paar Monate. Der Autor ist not amused, seine Heimat macht es ihm schwer, sich heimisch und wohl zu fühlen. Alles scheint illegal, unmoralisch und chaotisch.

Ein Besuch im Museum soll helfen, die Kluft zwischen Autor und Heimatland zu schließen, aber es wird nicht besser, denn im Umgang mit der eigenen Geschichte erweist sich Nigeria erneut als nicht zufriedenstellend. Machtmissbrauch vergangener Herrscher wird verherrlicht und die Sklaverei als Verbrechen und Teil der Weltgeschichte unter den Teppich gekehrt. Die Enttäuschung des Autors will kein Ende nehmen. Nigeria ist nicht so, wie er es gerne hätte. Es ist überaus eigenwillig und schwer zu verstehen. Misst man es an den Standards des Westens, kann es keinen guten Eindruck machen.

Auf den ersten Blick will dem Autor nichts gefallen in seiner alten Heimat, nichts scheint der Leser zu finden, was eindeutig positiv ist. Die Beschreibungen des Negativen sind hingegen sehr eindeutig. Zwischen den Zeilen, hinter der ganzen Ablehnung und Verurteilung, ist sie versteckt, die Zuneigung zur Lebensart der Bewohner von Lagos. Sie ist nicht so gut begründet wie die negativen Aspekte, aber spürbar im Miteinander und im Optimismus, der im Allgemeinen wie im Detail zum Ausdruck kommt. Die Probleme sind groß, aber gemeinsam werden sie gelöst, das bemerkt auch der Autor.

Der Ton der Erzählung überzeugt auf ganzer Linie, ist der wahre Höhepunkt des Buches, da er den Leser besiegt und vereinnahmt. Der Ich-Erzähler berichtet unmittelbar und nüchtern von seinem Aufenthalt in der Heimat, legt seine Gedanken dar und lässt literarische Schönmalerei beiseite. Ohne Umschweife begibt sich der Autor zu dem, was er sagen möchte, ist dabei nicht um Kargheit verlegen, wohl aber um Überfluss. In wenigen Worten beschreibt er die Szenen, die Personen, das Geschehen und auch den inneren Monolog. Einen Reisebericht meint man zu lesen, so gut sind Fiktion und literarische Darstellung eingeflochten in das Unmittelbare, das dem Leser größte Authentizität vorspielt und prosaische Leichtigkeit vermittelt.

Das Buch endet auf ganz herrliche Art, mit einem Aufeinanderprallen der beiden Weltsichten – der nigerianischen und westlichen, wenn man sie so nennen will – und ihrer Unversöhnlichkeit. Es geht um Leben und Tod, um das Wesen der Dinge, die Welt, wie sie ist und wie wir in ihr sind. Der Autor liegt im Fieber, seit einigen Tagen schon, und erhält Besuch von einem Freund, den er lange nicht gesehen hat, Oluwafemi. Er habe Malaria, klagt der Autor sogleich, aber der Freund rät zur Vorsicht mit solchen Aussagen.

 

Ich meine, dass ich so etwas nicht sage: "Ich habe Malaria." Die Zunge ist ein sehr machtvolles Instrument.
Schön und gut, aber Tatsache ist, mein Lieber, ich habe tatsächlich Malaria. Und deshalb sage ich es.
[...]
Eine weibliche Anopheles-Mücke hat mich erwischt. Das ist eine Tatsache. Und in diesem Augenblick denaturiert der Plasmodiumparasit meine roten Blutkörperchen, dadurch wird es Realität.... Es hat wirklich keinen Sinn, wider faktisches Wissen zu reden.

 

Die Rationalität und vermeintliche Objektivität will sich nicht reinreden lassen vom Freund, der den Worten und der Vorstellung viel Kraft zuspricht. Wissen versus Glauben. Und derjenige, der sich auf Tatsachen beruft, ist dann auch derjenige, der doch kein Malaria hat, aber vorbildlich seine Rolle als Vertreter der modernen Weltsicht gespielt und die Vernunft an die Stelle der Empfindungen gesetzt hat.

Teju Cole schrieb den Jeder Tag gehört dem Dieb noch vor seinem Erfolg Open City, welcher ihn zu einem Star der US-amerikanischen Literaturszenen machte. Jedoch erschien der Roman damals nur in einem kleinen Verlag in Nigeria und wurde wenig beachtet, erst jetzt, da sein Name ein größeres Publikum anzieht, wurde er in großem Stil neu aufgelegt und vermarktet. Cole ist mit seinem Debüt ein bemerkenswerter Roman über unsere Gegenwart gelungen, klug und ignorant, so echt und scheinheilig, man möchte immer weiterlesen.

Jeder Tag gehört dem Dieb

Teju Cole, Hanser Berlin

Jeder Tag gehört dem Dieb

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