Die Europäer

  • Manesse
  • Erschienen: Januar 2015
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  • -: Macmillan, 1878, Titel: 'The Europeans', Originalsprache
  • Zürich: Manesse, 2015, Seiten: 256, Übersetzt: Andrea Ott, Bemerkung: Nachwort von Gustav Seibt
Die Europäer
Die Europäer
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Sebastian Riemann
801001

Belletristik-Couch Rezension vonJun 2015

Diese merkwürdigen, charmanten Verwandten

Amerika, die neue Welt, unendlich weit und voller Möglichkeiten, frisch und unverbraucht, voller natürlicher Reichtümer, endloser Landschaften und strahlend blauem Himmel, das Gegenstück zum alten, dicht besiedelten, geradezu muffeligen Europa. Nach Amerika muss man gehen! Ein neues Leben anfangen, das Große und Weite suchen, einen Neuanfang. Dort kann man jemand werden, kann sein eigenes Schicksal schmieden wie ein dickes, glühendes Stück Eisen, das auf seine Form wartet. Es ist das Land der Verheißungen, ein Land, das immerzu wächst und für jeden einen Platz hat. Dort ist alles möglich!

Wer nach Amerika auswanderte, hatte allerhand großartige Ideen vom Kontinent auf der anderen Seite des Atlantik. Man machte sich auf den Weg, weil man sich etwas erhoffte, was man im alten Europa nicht so leicht erlangen konnte, mehr Freiheit oder Erfolg. Man wollte ein besseres Leben in Amerika. Meist verspürte man eine derartige Motivation, weil man in der Heimat nicht mehr weiterkam, sich Hindernissen gegenüber sah, die mit der Zeit nur anwuchsen, aber niemals überwindbar schienen. Man gehörte nicht zu den Erfolgreichen, denn wer Erfolg hatte, blieb dort, wo er war und genoss das Leben und seine süßen Früchte.

In Henry James Die Europäer kommt hingegen eine Baronin nach Amerika. Sie ist keine einfache Frau, vielmehr eine Dame aus der gehobenen Gesellschaft. Und doch sucht auch sie Freiheit und ein neues Leben in Amerika, einem für sie fremden Land. Warum sie Europa entflieht, wird angedeutet, aber nicht vollends erklärt. In Amerika hat sie Verwandte, die sie nicht kennt, das reicht ihr, um dort einen Neuanfang zu wagen, fern der ominösen Probleme des alten Kontinents. Begleitet wird sie von ihrem lebenslustigen Bruder, einem talentierten Maler, der es nie zu etwas bringen wird, ununterbrochen spricht und gute Laune verbreitet. Er ist ein liebenswerter Lebemann und die Ergänzung zur Baronin, die nicht unbeschwert wie der Bruder, sondern vielmehr wohl überlegt, elegant und jeglicher Etikette entsprechend sich in den Kreisen der Gesellschaft bewegt. Zusammen sind sie die Europäer, die Besucher aus Übersee. Wenn auch recht unterschiedlich, verbindet beide eine gewisse Kunst des Genießens, während ihnen gegenüber die Amerikaner stehen, eine Gruppe furchtbar netter, aber irgendwie doch langweiliger, weil prüder Menschen, die nach einfachen Idealen leben, sich Prinzipien unterwerfen und nicht den Verlockungen des Genusses nachgeben.

Familie schafft Einheit und deshalb laden die amerikanischen Verwandten die Baronin und ihren Bruder ein, bei ihnen zu wohnen, nicht im selben Haus, aber doch in der unmittelbaren Nähe, in einem kleinen, beschaulichen Häuschen, das man ihnen zur Verfügung stellt, damit es ihnen gut geht und sie gleichzeitig nicht im Schoß der Familie weilen mit ihren ungewöhnlichen Ansichten und Angewohnheiten. Allzu nah will man die neuen Verwandten aus Europa nicht haben, man spürt, dass sie viel Verwirrung und Unruhe in das wohl geordnete Familienleben bringen können, der Hausherr macht sich da Sorgen.

Aus den kulturellen Unterschieden der beiden Gruppen, aber auch aus den Spannungen und Problemen, die jeder Charakter in sich trägt, konstruiert Henry James eine unterhaltsame Geschichte, in der – wie nicht anders zu erwarten bei James – viel gesellschaftliche Rollenbilder zum Tragen kommen, hier und da etwas verhindern und verkomplizieren, an anderer Stelle Möglichkeiten schaffen. Es geht um Liebe, um Heirat, Vertrauen und ein bisschen Betrug, um das Verhalten von Brüdern, Schwestern, Cousins und Cousinen, Väter, Töchter und Söhne, es geht um eine geschickte Frau mit viel Feingefühl und versteckten Ambitionen. Man trifft sich auf der Veranda, um gemeinsam zu essen, verbringt die Abende im Salon des Hauses, die Nächte im Häuschen, macht Spaziergänge, stattet diesem und jenem einen Besuch ab. Die Unterhaltungen drehen sich um offene oder versteckte Zuneigungen, um Erwartungen, Enttäuschungen und ansehnliche Vermögen.

Meisterlich stellt Henry James die Figuren auf, schiebt sie übers Feld, bringt hier zwei zusammen und dort zwei auseinander, lässt Einem überrascht den Mund offen stehen und drückt dem Nächsten ein verschmitztes Lächeln ins Gesicht. Die Europäer haben viel zu bieten im Kreis ihrer amerikanischen Verwandten, jener Puritaner mit blassem Antlitz und strenger Moral.

Die Europäer

Henry James, Manesse

Die Europäer

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