Koala

  • Göttingen: Wallenstein, 2014, Seiten: 184, Originalsprache
Koala
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Sebastian Riemann
861001

Belletristik-Couch Rezension vonFeb 2015

Ein schwieriges Thema vielschichtig und bemerkenswert erzählt.

Selbstmord ist ein schwieriges Thema. Es macht sprachlos, streut Verzweiflung und Hilflosigkeit unter denen, die zurückgeblieben sind. Befassen möchte man sich nicht damit, vielmehr will man es schnell aus den Köpfen bannen, das Ereignis vergessen und zurück in den Alltag finden, in den Alltag mit seinen Sicherheiten und vorgegebenen Wegen. Vorwürfe will man dem Selbstmörder machen, kann es aber nicht. Man will ihm verzeihen und mitfühlen, will Verständnis und vielleicht sogar Sympathie für ihn aufbringen, damit seine Tat nicht so gewalttätig und unbarmherzig erscheint. Verwirrt mit sich selbst, dem Verstorbenen und der restlichen Welt wird man zurückgelassen und ist gezwungen zu schweigen. Ein quälendes Durcheinander ist das Erbe eines Selbstmordes. Lukas Bärfuss hat sich in seinem neusten Buch angeschickt, dem Ganzen eine Form und einen Sinn zu geben, von einer persönlichen und erzählerischen Warte aus.

Der Autor des Buches reiste in seine Heimatstadt, um einen Vortrag über Heinrich von Kleist zu halten, einen allseits bekannten Schriftsteller und Selbstmörder. Bei dieser Gelegenheit sah er auch seinen Halbbruder, der sich kurze Zeit darauf das Leben nahm. Derart ist die Ausgangssituation.

Aufgewühlt und unsicher, was zu tun sei, begibt sich der Autor wieder in den Heimatort, um bei den Formalitäten zu helfen. Er ist wütend auf seinen Halbbruder, diesen Nichtsnutz und bekifften Tagedieb. Er fühlt sich schuldig, da in seinen Erinnerungen immer mehr Details auftauchen, die er nun als Hinweise deutet, als Hilferufe eines Verzweifelten oder als schwache Signale eines schwachen Lebenswillen. Und er hat sie nicht erkannt und nicht geholfen. Er denkt zurück an seine Kindheit, die er nur zu geringen Teilen mit seinem Halbbruder teilte. Wenig weiß er über diesen Menschen, mit dem er verwandt war und der freiwillig aus dem Leben schied.

Bärfuss´emotionale Reflexionen sind eindrucksvoll, da sie keinem übergeordneten Bild unterliegen, sie widersprechen sich, sind ungerecht in mancherlei Hinsicht, übertrieben und ehrlich. Sie geben die innere Verwirrung und Hilflosigkeit wieder, die der Autor ausgeliefert war. Sie sind kein gut strukturiertes Ergebnis am Ende einer langen Untersuchung, sie sind die Momente, die er durchlebte und deshalb so lebhaft und packend, dass man als Leser gleichermaßen hin- und hergerissen ist. Es gibt keine Passagen zwischen den gegensätzlichen Sichtweisen, kein Verhandeln oder Abgleichen - Wut, Schuld und Angst stehen gleichberechtigt nebeneinander, ohne Aussöhnung.

Nachdem der Leser erfahren hat, dass der nunmehr verstorbene Halbbruder vor vielen Jahren in einem Ferienlager/Abenteuercamp dem Totem des Koalas zugeordnet wurde, ändert sich die Erzählung Bärfuss´. Er vergleicht den Menschen mit dem Tier, sucht Gemeinsamkeiten zwischen dem faulen Verwandten und jenem bizarren Tier. Beide lieben sparsame Bewegungen, vermeiden Stress und unnötige Aufregung. Zudem sind die äußerst Ortsgebunden, Langsamkeit als bestimmendes Element der Lebensgestaltung.

Und dann beginnt ein historischer Exkurs, in dessen Verlauf die Kolonialisierung Australiens aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird. Angefangen wird bei der Teilung Pangäas, der Trennung der Kontinente, gefolgt von der Besiedlung Australiens durch kühne Floßfahrer, die ihr Leben riskierten um neue Welten zu erschließen. Erzählerisch interessant wird es dann wieder bei der englischen Expedition, die Hunderte Kriminelle und Soldaten zum Kontinent zum anderen Ende der Welt brachte. Die Strafkolonie entsteht, nachdem alle Beteiligten eine lange, körperlich und seelisch qualvolle Seefahrt überstanden haben. Nicht wenige verlieren den Verstand oder sterben an Krankheiten, die auf den kleinen, dreckigen Schiffen wüten. In der neuen Welt trifft dann der Abschaum der englischen Gesellschaft auf Aborigines, doch entgegen aller Befürchtungen bleiben größere Konflikte aus.

Der Bogen wird geschlossen durch den Koala, der den Engländern nach vielen Jahren auffällt. Verwundert sind sie über dieses Tier, das sie nicht einordnen können und dessen Faulheit den Prinzipien der Natur zu widersprechen scheint. Nach den ersten Untersuchungen gesellen sich noch Erstaunen über die einseitige, ungesunde Ernährung sowie die ausgesprochene Stumpfheit und Dummheit des Tieres zu den Rätseln um dieses Lebewesen.

Der Koala bildet einen Gegensatz zum Menschen, wenn man den Menschen als Getriebenen sieht. Kolonialexpeditionen waren Ausdruck von nationalem Ehrgeiz, vom Drang etwas zu erobern, etwas zu erreichen. Der Koala hingegen will nichts erreichen und kann somit auch nicht scheitern, sondern lebt vielmehr genügsam in den Tag.

Lukas Bärfuss hat mit seinem vielfältigen Buch einen bemerkenswerten Beitrag geleistet zu einem schwierigen Thema. Er hat es ehrlich behandelt und es in eine Erzählung verwandelt, die vom Menschsein handelt und unser Streben hinterfragt. Es regt an zum Reflektieren des eigenen Alltags, ist gesellschaftskritisch ohne auf altbekannte Argumente zurückzugreifen.
Letztlich kann er nicht die Frage beantworten, warum sein Halbbruder sich das Leben nahm, aber er konnte ein wenig Respekt bewahren und Verständnis schaffen.

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