Arztroman

  • München: Antje Kunstmann, 2014, Übersetzt: Christiane Paul
Arztroman
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Sebastian Riemann
841001

Belletristik-Couch Rezension vonNov 2014

Erstklassige Unterhaltung mit viel Dramatik und überzeugenden Charakteren

Es gibt Veränderungen im Leben, die sind einfach anzunehmen, da sie schnell positive Effekte zeigen und alles besser als vorher scheint. Andere Veränderungen bringen nur Unheil mit sich, rauben einem die Lebenslust und Freude, lassen die Welt ein Stück schlechter werden. Der Großteil der Veränderungen in unseren Leben findet sich jedoch irgendwo zwischen diesen beiden Polen. Meist wird nicht alles besser oder schlechter, meist kommt ein Vorteil mit einem Hacken oder ein Nachteil ist letztlich besser als es auf den ersten Blick aussieht. Kristof Magnusson hat in seinem neuen Roman eine Frau Anfang vierzig zur Protagonistin gemacht und ihr Leben großen Veränderungen ausgesetzt. Die einzige Konstante in der Welt von Anita sind die Arbeitsschichten als Notärztin in Berlin. Innerhalb von Sekunden trifft sie die richtigen Entscheidungen und rettet anderen Menschen das Leben. Ihr eigenes Privatleben geht jedoch den Bach hinunter.

Anita Cornelius und ihr Mann hatten sich vor einem Jahr getrennt. Er zog bei seiner Neuen ein und nahm den Sohn gleich mit, Anita blieb allein zurück. Darauf hatten sie sich geeinigt, weil es das Beste für alle war. Sie sind beide Ärzte, vernünftige Personen, und die Trennung regelten sie sehr professionell. Doch bald muss Anita feststellen, dass sie zwei sehr wichtige Menschen in ihrem Leben verlieren könnte, denn die Dinge entwickeln sich nicht wie sie es will. Die neue Frau an der Seite ihres Exmannes scheint sie zu verdrängen und sie findet keinen Weg die alte Einheit in der Familie unter neuen Umständen zu bewahren. Die Veränderungen in ihrem Leben sind doch viel größer und gravierender als sie es sich zu Beginn eingestehen wollte. Sie schickt sich an, die neuen Probleme zu lösen und alles zum Guten zu wenden. Auf einem Segeltörn will sie die neue Familienkonstellation harmonisieren, will sich wieder gut stellen mit allen, einschließlich der neuen Frau ihres Mannes. Dabei präsentiert sie auch gleich noch ihren neuen Freund, der den Ausflug auf dem Wannsee leitet. In seinem Beruf nimmt er Geschäftsleute mit aufs Boot und zeigt ihnen am Beispiel des Segelns wie Teamwork funktioniert. Anita jedoch kann nicht ruhig bleiben, da sie bemerkt, dass sich ihr Sohn unter dem Einfluss von Heidi, der neuen Frau, verändert. Es kommt zum Streit zwischen den beiden Frauen.

 

"Ich will nicht, dass mein Sohn so wird", sagte Anita plötzlich zu Heidi.
"Wie denn?"
"So wie du."
Heidi war überraschter, als es Anita erwartet hatte. Anita war davon ausgegangen dass Heidi wusste, dass sie gemeine Dinge sagte. Doch vielleicht stimmte das gar nicht. Zumindest fragte Heidi mit ziemlichen Erstaunen:
"Wie denn?"
"Ich will keinen Sohn, der wie ein Jungliberaler im fritz-kola-Rausch auf Gutmenschen und Penner schimpft. Und das hat er von dir."

 

Ruhe vor dem persönlichen Chaos findet Anita in ihrem Beruf, den sie sehr gut beherrscht und in dem alles klar geregelt ist. Kompetenzen werden nicht in Frage gestellt, schon gar nicht ihre, denn sie ist bei jedem Einsatz die Chefin. Sie rettet Leben, andere helfen ihr dabei, aber sie ist die wichtigste Person, keine Frage. Es ist ein intensiver und verantwortungsvoller Beruf, es ist ihre Leidenschaft nachts durch die Straßen Berlins zu fahren und anderen Menschen zu helfen. Sie weiß, was sie zu tun hat und die Leute danken es ihr. Es ist ein großer Gegensatz zu ihrem privaten Desaster, welches sie nicht beherrschen kann, und so wird der Beruf auch zur Flucht vor der eigenen Familie.
Mit großem Können präsentiert Magnusson seine Charaktere, sie wirken authentisch und lebendig, weil sie viel reden und weil sie vielfältig sind. In den zahlreichen Dialogen bekommt der Leser ein gutes Gespür für die einzelnen Personen, kann Feinheiten erkennen und zwischen den Zeilen lesen. Die Entwicklung der Protagonistin kann man besonders gut verfolgen, da sie oft die Beherrschung verliert und im Privaten einen unprofessionellen, sehr direkten Ton anschlägt. Ihre Verwirrung, Wut und Angst werden greifbar in ihren verbalen Ausbrüchen, die oft von Reue gefolgt werden.

Doch niemand ist einfach gestrickt im Arztroman, alle Personen haben eine Tiefe, die sie zu ansprechenden Charakteren macht. Der Autor verzichtet mit Geschick auf eindeutige Postionen der Akteure und macht sie dadurch sehr interessant, da dem Leser stets eine Möglichkeit der Überraschung oder des Zweifels bleibt. So kann man sich nicht einfach auf die Seite von Anita schlagen, auch wenn man ihre Ängste kennt und ihre Ansichten teilt – sie ist so eigenwillig, dass man auch verstehen kann, wie sich die Menschen von ihr entfernen.

Die Sprache Magnussons ist eine Freude. Er schreibt ungekünstelt, aber sehr gekonnt. Es gibt nichts Überflüssiges in seinem Text, aber ebenso wenig ist sein Stil als nüchtern und kalt zu sehen. Er verliert sich nicht in schönen Ausschmückungen oder filigranen Ideenkonstrukten, sondern legt seinen Charakteren Worte in den Mund, die durch ihre Unmittelbarkeit und Ehrlichkeit überzeugen. Dafür braucht es nicht das jeweils eleganteste Wort, es darf auch mal ein wenig holprig werden, ganz im Sinne der Abbildung der Realität.

Der Titel Arztroman nimmt Bezug auf ein ganzes Genre, welches in den letzten Jahrzehnten viele Erfolge feierte. Wer keinen Arztroman gelesen hat, wird trotzdem von den zahllosen Arztserien im Fernsehen gehört haben, von George Clooney im Emergency Room, von Scrubs oder von Grey´s Anatomy. Tribut werden solchen Büchern und Serien gezollt in Form spektakulärer Notfalleinsätze und einer tragischen Liebesgeschichte im Krankenhaus.

Der Arztroman ist eine wahre Bereicherung der gegenwärtigen Literatur, er ist so lebensnah und kompliziert, so einfach zu lesen und so spannend. Wirklich gute Unterhaltung mit Tatütata, Rotlicht, aber auch immer wieder leisen Tönen.

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