Traumsammler

  • London: Bloomsbury, 2013, Titel: 'And the mountains echoed', Originalsprache
  • Frankfurt: Fischer Taschenbuch, 2014, Seiten: 448, Übersetzt: Henning Ahrens
Traumsammler
Traumsammler
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Claire Schmartz
601001

Belletristik-Couch Rezension vonOkt 2014

Die Suche und die Leere

Mit einer Gute-Nacht Geschichte setzt Khaled Hosseinis neuester Roman ein. Und auch wenn die Geschichte bedrohlich und gruselig erscheint, steht sie anfangs noch im Gegensatz zu der Vertrautheit zwischen dem erzählenden Vater und seinen zwei Kindern, Pari und Abdullah. Doch auch in Traumsammler schleicht sich bald eine Bedrohung ein. Die vierjährige Pari muss ihre arme Familie und ihr Heimatdorf verlassen und wird von einem reichen Ehepaar, das in Kabul lebt, den Wahdatis, adoptiert. Doch hinter der vermeintlichen Adoption steckt mehr. Der Onkel Paris und ihr Vater haben in einem Handel mit den Wahdatis die kleine Pari verkauft – für eine bessere Zukunft. Dennoch muss sie ihre Familie verlassen und wird von ihrem sie liebenden und seit jeher beschützenden Bruder Abdullah getrennt. Auch wenn die Kinder im Laufe der Jahre vergessen, was ihnen in ihrer Kindheit widerfahren ist, bleibt dennoch eine Ahnung von einem großen Verlust zurück. Und so sind zwei unterschiedliche Situationen geschaffen: Pari wird in einem reichen Elternhaus in einer Großstadt aufwachsen, zwischen liberalen und künstlerischen Erwachsenen, inmitten politischer Unruhen – während ihr Bruder Abdullah zurückgeblieben ist in dem kleinen, kargen Heimatdorf, für das jeder Winter eine Lebensbedrohung darstellt.

Ab diesem Punkt bricht Hosseini die Erzählstruktur auf. Ort- und Zeitsprünge erlauben ihm, immer neue Figuren einzuweben und auftauchen zu lassen, die in ihrer Verstrickung miteinander ein wimmelndes und lebensstrotzendes Gesamtbild formen. Immer neue Figuren bereichern die Erzählung mit ihrer Geschichte, ihrem Charakter, ihrer jeweiligen Gesinnung – und sind trotzdem alle miteinander verbunden, finden zusammen, wieder auseinander und prägen einander durch noch so flüchtige Begegnungen. Die umeinander kreisenden Figuren schaffen es, in ihrer ewigen Zirkelbewegung die Geschichte weiterzubringen, aus den unterschiedlichsten Standpunkten und Momenten.

So widmet sich die Erzählung unter anderem dem Onkel Paris, Nabi, der in Kabul als Chauffeur Nila Wahdatis und Diener Suleiman Wahdatis arbeitet. Der idealisierte und dann missverstandene Onkel, der Pari geradezu raubte, wird dem Leser näher gebracht und vertraut. Nach einem Schlaganfall von Suleiman Wahdati verlässt Nila ihn und zieht nach Frankreich. Nabi bleibt in Kabul und unterstützt treu seinen Herren, hilft ihm und wird alsbald zu seinem vertrautesten Freund. Nila hingegen schreibt Gedichte, wird in Paris zu einer bekannten Künstlerin, stürzt sich aber zugleich in Affären und Alkohol. Nach dem Freitod Nilas erfährt Pari von ihrer eigentlichen Geschichte und will sich auf die Suche machen nach dem, was ihr Leben hätte sein können, was ihr Leben war, was ihr Leben noch ist, ohne dass sie es wusste.
Zu dieser Zeit hat sich in Kabul einiges geändert. Der Leser lernt nun den Exilafghanen Timur kennen, der sich in seiner – nunmehr – kalifornischen Heimat nach dem 11. September 2001 Tim nennt. Er ist zum ersten Mal nach fast 20 Jahren wieder in Afghanistan, gibt vor, dem Land etwas zurückgeben zu wollen, kümmert sich aber in Wirklichkeit darum, den Besitz seiner Familie zurückfordern.

 

"Er geht durch die Stadt, als wäre er hier zu Hause, klopft Einheimischen großspurig auf den Rücken, nennt sie Bruder, Schwester, Onkel, bläst sich mächtig auf, wenn er Bettlern Geld gibt, scherzt mit alten Frauen, die er mit Mutter anredet und dazu bringt, ihre Geschichte vor laufendem Camcorder zu erzählen, indem er sich betroffen gibt und so tut, als wäre er einer von ihnen, als hätte er das Land nie verlassen und nicht in San José im Fitnessstudio Gewichte gestemmt, während diese Menschen bombardiert, massakriert und vergewaltigt wurden."

 

In diesem plumpen Umgang mit der eigenen Vergangenheit und Heimatlosigkeit findet sich eine Parallele zu Paris Suche nach ihrem Ursprung. Idris, Timurs Bruder, empfindet eine ähnliche Spaltung, lebt sie jedoch anders aus. Nach seinem Aufenthalt in Kabul kehrt er in die USA zurück, zu seiner Familie, den Nintendo spielenden Söhnen, die mit den Erzählungen ihres Vaters über zerbombte Schulen nichts anfangen können und die Exilheimat nicht mehr als solche ansehen. Die drei müssen sich ihren Wohlstand, ihr Wohlergehen, ihre Gesundheit erklären – und nahezu eine Entschuldigung finden dafür, dass es ihnen nicht so ergangen ist, wie dem Rest der zerstörten Heimat. Die beiden stehen zwischen den Heimaten, versuchen, sich zurechtzufinden zwischen den Gesellschaften, den Traditionen, und es fällt ihnen dennoch schwer, Fuß zu fassen.

Hosseini schildert diese Zwiespältigkeit mit ihrem Schmerz, ihrer Unverständnis und Ohnmacht. Alle Figuren suchen, und ob sie da, wo sie suchen, etwas finden können, was diese Leere, die sie vielleicht wie die beiden getrennten Geschwister, all die Jahre empfunden haben, füllen, besänftigen oder heilen kann, ist fraglich.

Traumsammler

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