Vielleicht Esther

  • Suhrkamp
  • Erschienen: Januar 2014
  • 0
  • Berlin: Suhrkamp, 2014, Seiten: 285, Originalsprache
Vielleicht Esther
Vielleicht Esther
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Almut Oetjen
841001

Belletristik-Couch Rezension vonSep 2014

In Wirklichkeit ist alles anders als die Wirklichkeit

Katja Petrowskaja, in Kiew geborene und in Berlin lebende Bachmann-Preisträgerin 2013, hat mit „Vielleicht Esther" ihr Debüt veröffentlicht. Mitunter als Roman bezeichnet, vom Suhrkamp Verlag mit der Bezeichnung „Geschichten" versehen, scheint sich das Buch der eindeutigen Zuordnung zu entziehen.

Die Vergangenheit in der Gegenwart

Die Ich-Erzählerin, oder Katja Petrowskaja, geht in Vielleicht Esther der Geschichte ihrer Familie über rund hundert Jahre nach. Bereits in der Exposition „Google sei Dank" verbindet sie Vergangenheit und Gegenwart kulturell und politisch, stellt Bezüge her zwischen Bombardements und der Kampagne Bombardier YourCity, lernt als junge Jüdin einen alten Juden am Bahnsteig in Berlin kennen, fährt mit dem Zug von Berlin nach Polen. In nucleo äußert sich auf diesen sieben Seiten ein Programm, das die folgenden sechs Kapitel bestimmt.
Katja Petrowskaja recherchiert, reist, führt Gespräche. Es gibt nur noch wenige Zeitzeugen, dafür aber mehr Material. Sie hat eigene Erinnerungen und reflektiert die Erinnerungen Dritter wie auch das historische Material, das sie für sich mit Erinnerungscharakter versieht. Sie bezieht sich in den Text ein, zu dem die Erinnerungen werden.

Vielleicht Esther ist kein Roman, auch keine Sammlung literarischer Geschichten. Das merkt man beim Lesen schnell. Am ehesten handelt es sich noch um eine Reportage, die zum Teil in Form von kleinen Geschichten vorgetragen wird. Mag sein, Katja Petrowskaja legt keinen Wert auf Genrezuweisungen, noch darauf, ob sie als belletristisch oder journalistisch arbeitend wahrgenommen wird. Vielleicht deutet sich in ihrem Vorgehen auch ihre Poetologie an. Darüber werden ihre weiteren Arbeiten Aufschluss geben.

Historische Fakten und Erinnerungen

Die Fakten, die sie recherchiert, verbindet sie gelegentlich mit Spekulationen, mit Fantasien. Ihre Recherchen selbst werden zu einem Dokument der Zeitgeschichte und des Umgangs mit historischen Daten und Kontexten. Das Buch liest sich wie ein Beitrag zum Erinnerungsdiskurs. In persönlicher Herangehensweise fragt sie danach, wer sich erinnert, was erinnert wird, wenn Zeitzeugen nicht mehr existieren, die primäre Erinnerung stumm ist. Gibt es Sachwalter der Erinnerung, Träger eines Gedächtnisses? Was geschieht mit Erinnerungen, mit ihren verschiedenen Qualitäten, deren eine ihr Inhalt ist, mit zunehmendem zeitlichem Abstand zu den Geschehnissen? Wie verhält es sich mit den irgendwann vorliegenden Erinnerungen an Erinnerungen.

Wie leistet Petrowskaja ihre persönliche Erinnerungsarbeit und erzählt ihre Familiengeschichte über ein knappes Jahrhundert? Sie fügt nichts zu einer zusammenhängenden Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende, liefert keine kohärente Repräsentation von Geschichte, bringt sich häufig genug als erinnernde oder reflektierende, Verstehen suchende Instanz ins Spiel. Sie „erzählt" nicht entlang einer chronologischen Zeitlinie, springt vielmehr zwischen Zeiten hin und her. Aber dies scheint weniger Element eines Erzählprinzips zu sein als Ausdruck der Tatsache, dass die Abfolge der Recherchearbeiten das grundlegende Prinzip zur Materialorganisation ist, somit eine andere chronologische Zeitlinie bestimmend ist.

Historischer Stoffwechsel

Petrowskaja beginnt mit einem Familienbaum, als Liste mit unterschiedlich dicken Zweigen (Informationseinheiten pro Person) und Tolstoj im Wurzelwerk. Später bringt sie eine Namensliste, die zu durchsuchen ist, mit dem Gedanken der Selektion in Verbindung. Der Tod erinnert sie an Vergänglichkeit, an Vergangenes, an das Wort Geschichte.

„Geschichte ist, wenn es plötzlich keine Menschen mehr gibt, die man fragen kann, sondern nur noch Quellen."

Petrowskaja schreibt von Menschen als Teil des staatlichen Stoffwechsels. Wir Leser erinnern uns an die Schulzeit. Es gibt Menschen, die Geschichte machen, und Menschen, die für die Produktion von Geschichte benutzt werden. Letztere gehen nicht in die Geschichtsbücher ein, sondern landen im „Baumüll der Geschichte", durch den sich die Autorin manchmal bewegt. Petrowskaja verwendet in ihrem Text Telefongesprächsauszüge, Zitate aus Briefen, einem Gästebuch und Gedichten, Zeitungsauszüge, E-Mails, eine Registrierungskarte aus dem KZ Mauthausen, Fotografien, erzählt Träume nach, gibt Zwischenberichte und Zusammenfassungen an ihre Mutter.

An mehreren Stellen wird die Relevanz von Oral History deutlich. Als Leser stellt man sich die Frage, wem die erzählte Geschichte gehört. Und: wie wirkt die Vergangenheit, ihre Dinge und Toten, auf die Gegenwart und die Lebenden. Manches, was erzählt wird, gleicht einer Fabel, einer Legende, einem Märchen. Wird erzählte Geschichte dadurch unzuverlässig? Oder ist Geschichte, die immer auch an die sie (re-)präsentierende Instanz gebunden ist, bei allen Belegen nicht immer Erzählung? Wie wahrscheinlich ist es, dass jemand bis zu seinem neunten Lebensjahr bereits Hunderte von Büchern verschlungen hat? Eine Pflanze wird zu einem wichtigen Ankerpunkt. Aber gab es sie wirklich, war sie nur Fiktion? Und was würde sich am dokumentarischen Gehalt des Erzählten ändern, hätte die Pflanze nicht existiert?

Katja Petrowskaja reflektiert in ihrer fragmentarischen Rekonstruktion von Familiengeschichte das Hervorbringen und die Formen der Vermittlung von Erinnerungen, die Möglichkeiten der Wahrnehmung von Erinnerungen durch diejenigen, die nicht über diese Erinnerungen als im Gedächtnis archivierte Erfahrungen verfügen, sondern sie sich irgendwie aneignen, um mit ihnen etwas anfangen zu können.

Vielleicht Esther

Katja Petrowskaja, Suhrkamp

Vielleicht Esther

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