Exodus

  • Berlin: Matthes & Seitz, 2013, Seiten: 130, Übersetzt: Friederike Meltendorf
Exodus
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Claire Schmartz
751001

Belletristik-Couch Rezension vonSep 2014

Hoffnunglose Gewaltexzesse in der Postsowjetunion

Exodus heißt das 2. Buch Mose, das den Auszug der Israeliten aus Ägypten schildert. Exodus heißt auch das 1. Buch von Piotr Silaev. 2010 veröffentlichte er die Geschichte erstmals unter dem Pseudonym DJ Stalingrad. 2013 ist die erste deutschsprachige Übersetzung bei Matthes & Seitz Berlin erschienen. Und die Geschichten, die zum Auszug des Erzählers aus Russland führen, sind ähnlich haarsträubend wie die biblischen Gräuel. Es ist schwer, die Bilder zusammenzufassen, die als Art Therapie aneinander gereiht werden.

 

„Ich wollte sehr lange nichts schreiben, jetzt will ich. Ich brauche es. Ich bin entspannt und schreibe einfach Bilder auf [...]. Sie haben die ganze Zeit in mir gelebt, mich belagert und gequält, ich konnte an nichts anderes denken [...]. Mir wird tatsächlich leichter, ich erinnere, um zu vergessen."

 

Piotr Silaev, Angehöriger der roten Skinheadszene, Anarchist und Antifaschist, wurde 1985 in Moskau geboren und war an etlichen antifaschistischen Aktionen in Moskau beteiligt. 2010 hatte Silaev gegen einen Autobahnbau durch ein Naturschutzgebiet demonstriert. Nachdem es zu gewalttätigen Übergriffen seitens des Militärs kam, taten die Aktivisten es ihnen gleich: Gewalt sei kein alleiniges Privileg von Polizei und Machthabern. Doch der Sachschaden war immens und so musste Silaev Russland verlassen. Im August 2012 wurde er von spanischen Polizisten in seinem Hostel festgenommen und zum international gesuchten Straftäter erklärt. In Russland wirft man ihm Hooliganismus und Rowdytum vor, ein Vorwurf, der sich auch gegen die Punk-Band Pussy Riot bewährt hat. Auf der Internetseite des Verlages Matthes & Seitz Berlin findet sich ein Interview mit Silaev und einem Vertreter von Fair Trials International, einer Hilfsorganisation, die sich seiner Verteidigung angenommen hat. Die Kritik ist klar und mit dramatisch-bedrohlicher Musik unterlegt: Interpol habe ihn zwar inzwischen aus der Datenbank getilgt, doch Russland arbeitete noch immer an seiner Auslieferung.

In Exodus schildert der Erzähler eine Jugend in der russischen Autonomenszene voller Hass, Gewalt und tatsächlichen Rowdytums. Dieser geht über bloße Sachbeschädigung hinaus. Regelmäßig kommt es im Roman zu bewaffneten und durchaus blutig endenden Schlägereien. Der Roman übt eine starke Gesellschaftskritik aus und demonstriert zugleich die Sinnlosigkeit aller Dinge. Das Kunstmittel, das DJ Stalingrad wählt, um diese frustrierende Leere darzustellen, ist ausartende und absurde Gewalt. Es gibt Schlägereien in Moskauer Vororten, Gemetzel im Moskauer Metro, Ausschreitungen zum 1. Mai, Prügeleien zwischen Hooligans bei Sportveranstaltungen, Schlachten bei Konzerten. Es gibt regelrechten Krieg, überall lauern Feinde und Bullen und nirgendwo gibt es Verbündete. Mit der Polizei wird verhandelt, Gliedmaßen werden durchstochen oder fast abgeschnitten, es gibt Tote. Knallrotes Blut auf kaltem Schnee:

 

„Man muss einfach alle zusammenschlagen. Einfach alle zusammenschlagen. Sich keine Geschichten anhören, keine Schulterstücke oder Hierarchien beachten – einfach zuschlagen."

 

Ein Aufschrei einer hoffnungslosen, zukunftslosen, verurteilten Jugend in der postsowjetischen Gesellschaft. Der Roman streut Salz in die Wunde der russischen Gesellschaft: Missstände, Verständnisprobleme, Generationsprobleme zwischen der Generation der Neunziger und den „Sowjetmenschen". Hinter der Gewalt verbirgt sich viel Kummer und Trauer. Mütter, die Medikamente nehmen, um vor Sorge um ihre Söhne nicht durchzudrehen, Eltern die ihre Kinder schlagen, Kindheiten voller Schmerz, Drogen, Abstürze, Vergewaltigungen, ein Obdachloser friert monatelang in seinen Exkrementen fest, ein Kind stürzt aus dem 8. Stock und ist tot... Kein Wunder, dass die Jugendlichen inmitten dieser Perspektivlosigkeit und Frustration in Rage geraten.

Ergreifend wirkt der Roman in seiner Eindrücklichkeit. Exodus ist ein brutaler Text und es tut bereits weh, ihn zu lesen. Gewalt wird zum Ausdrucksmittel einer verlorenen Generation, die sich weder artikulieren noch orientieren kann, und die irgendjemandem die Schuld daran geben will. Das biblische Exodus ist klar strukturiert: Das Volk ist in Not und leidet unter der Fremdbestimmung; dann tritt ein Befreier auf und errettet das Volk. Doch wo sind in DJ Stalingrads Exodus Errettung und Auszug der Romanfiguren? Wo ist der Befreier im postsowjetischen Russland? Der Besuch bei einem Mönch in einem Bettelkloster bleibt stumm, denn der Protagonist hat vergessen, was der Mann ihm mit auf den Weg gegeben hat. Alles wird kritisiert, und kein Strohhalm bietet Rettung. Nicht einmal die Religion.

Der Roman hat durchaus auch fragwürdige Seiten. Einerseits die plakative, verherrlichende Gewaltdarstellung. Die Figuren erheben ihre Schlachten zu Festivitäten, für die sie extra herumreisen oder sich herausputzen. Weitere Probleme gibt es, wenn der Erzähler homophobe Kommentare ablässt, und über „Schwuchteln" oder „schwule Frisuren" schimpft. Grenzen scheint es für die sprudelnde Abscheu keine mehr zu geben. Ob die davor etablierte Gesellschaftskritik überhaupt noch fruchtbar sein kann, wenn der Hass willkürlich wirkt, ist absolut in Frage zu stellen, wenn der Erzähler sagt:

 

„In den Ofen mit diesen Rindviechern, in den von Auschwitz, es ist um keinen schade, die ganze Generation [...] und mich gleich mit rein, geht in Ordnung."

 

Leider wird dann aus der Frustration schnell ein allgemeiner Gesellschaftshass, keine bloße Kritik mehr an politischen Machenschaften und bestimmten Strömungen. Man würde sich vielleicht eine subtilere oder zielgerichtete Kritik erwarten. Vielleicht sogar einen Willen oder eine Hoffnung auf Verbesserung. Doch wäre das naheliegend? Würde das überhaupt in diese blut- und hassgetränkte Gemeinschaft passen? Vielleicht beantwortet Ted Kaczynski, der sog. UNA-Bomber, der auch im Roman benannt wird, diese Frage am besten:

 

„Kunstformen, die moderne linke Intellektuelle ansprechen, konzentrieren sich auf Schäbigkeit, Niederlage und Verzweiflung, oder aber sie nehmen einen orgiastischen Ton an, indem sie jede rationale Kontrolle aufgeben, als ob man durch rationale Berechnung nichts zustande bringen könnte und nichts bleibt, als sich den Empfindungen des Augenblicks vollständig anheim zu geben."
Etwas ist faul in Russland, und zwar etwas Grundlegendes. Der Roman pulsiert in einer absurden Sequenz aus Fight Club, bestückt mit Straßenschlachten und Drogenexzessen. Herzlich willkommen im russischen Clockwork Orange. „Herzlich willkommen in der Welt der Verlorenen, Hässlichen, Verschlossenen, Kurzsichtigen. Hier ist mein Zuhause, ich brauche kein anderes. [...] Wir alle gehören zu der ekelhaften postsowjetischen Generation. Wir haben nichts, keine Ziele und Prinzipien."

 

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