Die russische Mauer

  • Suhrkamp
  • Erschienen: Januar 2014
  • 1
  • Moskau: Astrel, 2012, Titel: 'Prazdničnaja gora', Originalsprache
  • Berlin: Suhrkamp, 2014, Seiten: 232, Übersetzt: Christiane Körner
Die russische Mauer
Die russische Mauer
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Sebastian Riemann
621001

Belletristik-Couch Rezension vonJul 2014

Radikales Szenario im Kaukasus

Der Kaukasus ist eine Vielvölkerregion mit großem Konfliktpotential. Kulturelle Unterschiede, verschiedene Auffassungen vom richtigen Leben gemäß dem Islam, sowie die Beziehung zu Russland sind Faktoren, die es vermögen die Bevölkerung in unzählige Kleinstgruppen zu teilen, die gegeneinander ein Auskommen suchen, miteinander konkurrieren und sich bekämpfen. Dagestan ist eine russische Republik im Nordkaukasus, sie grenzt an Tschetschenien und Georgien, Regionen, die in den letzten Jahren vermehrt in den Schlagzeilen waren. Als die Parteibosse in Moskau sich entschließen, Dagestan durch einen Wall vom Rest des Landes zu trennen, bricht das Chaos aus. Die vielen Konflikte, die durch die Großmacht unterdrückt wurden, flammen auf, jede Gruppe sucht ihren Vorteil und alle Mittel sind recht. Mittendrin befindet sich Schamil, ein junger Mann, der eigentlich einen Job und eine Frau sucht.

In ihrem Romandebüt hat sich Alissa Ganijewa eines schweren Themas angenommen. Es geht um große Politik, um religiöse Fragen, um Ehre und Wege des Miteinanders. Die Autorin versucht jedoch nicht Antworten zu geben oder aufzuklären, vielmehr verlegt sie sich in ihren Darstellungen auf die unüberschaubare Vielzahl an Gruppierungen in Dagestan. Vorwand ist ein Grenzwall, der die Region vom restlichen Russland trennen soll und dadurch die Macht neu ausschreibt. Die Zukunft der Region kann derjenige bestimmen, der sich an die Spitze setzt und bereit ist die Verhältnisse neu zu ordnen. Ansprüche gibt es von allen Seiten, jede ethnische, religiöse und politische Gruppe ist bereit ihre Muskeln spielen zu lassen und auch über Leichen zu gehen. Gleichzeitig versucht der junge Schamil sein normales Leben weiterzuführen, er will einen besseren Job finden, Mädchen kennenlernen, er trainiert mit den Freunden und versucht sich Klarheit über seine künftige Frau zu verschaffen. Sein Interesse am allgemeinen Geschehen ist sehr gering, die eigenen Angelegenheiten sind ihm wichtiger. Leider ist Schamils normales Leben, welches als Kontrast zum Anspruch radikaler Gruppen dargestellt wird, sehr unspektakulär. Die Geschichte Schamils hat wenig zu bieten und das Buch leidet unter diesem blassen Hauptdarsteller, dessen herausragende Eigenschaft ist, nicht nach Macht zu streben.

 

"Alte Beziehungen zerbrachen, die Leute veränderten sich unentwegt. Im Versuch, den Zerfall der Welt aufzuhalten, sah sich Schamil pausenlos verbotene nichtmuslimische Filme an, trainierte mit verdoppelter Anstrengung im Studio oder schaute bei Verwandten vorbei. Die waren zwar in Alarmstimmung, aber nach wie vor von ihren Alltagsproblemen beansprucht, von Windelkauf, Geldsorgen, Hausrenovierung. Als Schamil daran verzweifelte, die Ereignisse verstehen zu wollen, beschloss er sogar, seine früheren Freundinnen zu besuchen, an die er ewig nicht mehr gedacht hatte."

 

Das Buch ruft beständig ein Gefühl des Unverständnis hervor - der Protagonist Schamil und mit ihm der Leser werden Zeugen von zahlreichen Zusammenkünften von Menschen, die nicht verständlich sind. In einigen Fällen sprechen die Leute eine Sprache, die Schamil nicht beherrscht, in anderen Fällen verlieren sie sich in Auslegungen des Islams oder Interpretationen der politischen Ereignisse. Am Ende steht immer das Fehlen von Konsens und Verständigung, die vielen Gruppen in Dagestan profilieren sich, indem sie sich voneinander abgrenzen, eine Annäherung scheint unmöglich. Der Leser, der nicht vertraut ist mit der ethnischen Vielfalt der Region, wird immer wieder mit Menschen und Sprachen konfrontiert, die er nicht einordnen kann. Die Intention solcher Darstellungen ist eindeutig, beherrscht das Buch jedoch in zu großem Maße. Chaos und Unverständnis erreichen Dimensionen, die dem Leser nicht mehr gestatten, sich ernsthaft mit der Lektüre auseinanderzusetzen. Das Leseerlebnis wird von Verwirrung geprägt. Kapitulation vor der gewaltigen Vielfalt.

Hadschi Murat war Widerstandskämpfer in Dagestan im 19. Jahrhundert. Er widersetzte sich den russischen Besatzern und erlangte viel Ansehen. Tolstoi widmete ihm einen gleichnamigen Roman, in welchem er eigene Erlebnisse aus seiner Soldatenzeit im Kaukasus verarbeitete und die Machtkämpfe unter den verschiedenen Widerstandsgruppen darstellte. Ganijewas Protagonist Schamil ist das Gegenteil eines Hadschi Murat, er ist unbeteiligter und uninteressierter Zuschauer, keine schillernde Figur mit Macht und Einfluss. Die junge Autorin hat jedoch nicht nur ihre Hauptfigur ganz anders gestaltet als ihr bekannter Vorgänger, auch hat sie die andere Seite gewählt, sie berichtet aus dem dagestanischen Innenleben, während Tolstoi die russischen Soldaten im Kaukasus zeigte, wie sie ehrfurchtsvoll den legendären Hadschi Murat bewachen. Ganijewa vermag dadurch die alltägliche Menschlichkeit inmitten eines gewaltigen Chaos hervorzutun, sie ist nicht interessiert an den großen Reden und Helden, sondern an den Personen, die Dagestan ihre Heimat nennen und sich um das Wohl von Familie und Freunden sorgen.

Alissa Ganijewa hat einen Großteil ihres Lebens in Dagestan zugebracht, sie kennt die Region, die Menschen und Konflikte. Sie ist awarischer Abstammung. Die Awaren bilden die größte ethnische Gruppe in Dagestan, Awarisch ist eine von vierzehn offiziellen Sprachen. Die Autorin lebt in Moskau.

Das Buch begibt sich in kritische Gefilde und bleibt zu einfach. Es ist die Absicht einfach zu bleiben im Angesicht jener vielfältigen Ansprüche, um das einfache Leben zu zeigen, welches seinen Fortbestand sucht, während Andere Ideen und Macht verfolgen. Leider entstehen dadurch Inhaltsleere und eine vermeintliche Handlungsarmut, die in Schamils Alltag Ausdruck finden und dem Leser wenig bieten. Zweifelsohne gelingt es die Unübersichtlichkeit der kaukasischen Machtverhältnisse darzustellen, aber eine wahrlich interessante Auseinandersetzung mit der Problematik bleibt aus. Zudem ist das Szenario sehr eindimensional: Russland geht und das Chaos kommt. Man kann nicht erfassen, wo die Konfliktlinien verlaufen, letztlich kämpft jeder gegen jeden. Die Musik im Hintergrund spielt beständig das gleiche Lied: Russland sorgte für Ordnung und Sicherheit, Dagestan allein kann dies nicht bewerkstelligen. Ist die Großmacht gegangen und kann den kleinen Splittergruppen nicht mehr drohen, erheben sich diese und werfen alles in die Waagschale, sie scheuen vor nichts zurück, weil sie niemanden mehr fürchten müssen. Eine sehr einfache Position im Konfliktbereich von Nationalismus, Selbstbestimmung, Kultur und Religion.

Die russische Mauer

Alissa Ganijewa, Suhrkamp

Die russische Mauer

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