Im Kopf von Bruno Schulz
- Kiepenheuer & Witsch
- Erschienen: Januar 2013
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- Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2013, Seiten: 80, Originalsprache
Eine fein psychologisierte Apokalypse
Ein kleines Buch hat Maxim Biller vorgelegt, ein impulsives Meisterstück über einen jüdischen Schriftsteller und Zeichner im ehemaligen Polen, der in Angst lebte und seinen Weg in einer Welt suchte, die im Begriff war, einzustürzen und ihn zu begraben. In bizarren Bildern werden die historischen Ereignisse vorweggenommen und die Gesellschaft als Trümmerhaufen gezeichnet, geistige Verwirrungen, Ängste und Depressionen markieren die Menschen, die sich hernach prügeln lassen bis sie nackt und reglos unter Duschen daliegen, während über ihnen ein schwitzender Sadist thront. Ein rasantes Spektakel vermischt Gewalt, Erotik, Kunst und Geschichte – es wäre übertrieben, wenn es nicht so fesselnd wäre.
Bruno Schulz wendet sich brieflich an den bekannten deutschen Schriftsteller Thomas Mann, um ihn darüber zu informieren, dass ein Doppelgänger, ein falscher Thomas Mann, sein Unwesen treibt, im polnischen Dorf Drohobycz, dem Wohnort von Schulz. Das Verfassen des Briefes zieht sich in die Länge, da der Inhalt sorgsam abgewägt sein will, aber auch aufgrund des psychischen Zustandes seines Adressaten. Im Keller des Hauses seines Vaters sitzt Schulz, versucht sich von der Außenwelt abzuschirmen, seine Kräfte auf diesen Text zu konzentrieren, der ihm ein besseres Leben bescheren könnte, wenn Alles gut läuft. Unterbrechungen gibt es trotzdem zuhauf. Der Mann leidet unter Angststörungen, die sich mitunter in apokalyptischen Halluzinationen äußern und ihn in die Knie zwingen, in solchen Momenten kämpft er mit inneren Dämonen, der Brief muss warten. Weitere Störungen sind jugendlich-geflügelt, es sind die Kinder, denen er in der Schule Zeichenunterricht gibt, denn auch wenn ihm seine bisherigen Veröffentlichungen in Polen Ansehen eintrugen, so blieb aufgrund einer weiteren Resonanz der finanzielle Erfolg aus - Schulz´ Publikum ist zu klein, um ihn als Schriftsteller ernähren zu können. Die Schüler erscheinen in Form von Tauben, ähnlich Brieftauben, aber ohne Brief, denn sie sind ja Menschenkinder und können sprechen, brauchen kein Zettelchen am Fuß, um ihrem Lehrer Schulz Nachrichten aus der Schule zu übermitteln. Der Herr Zeichenlehrer war nämlich nicht zum Unterricht erschienen, solle sich so schnell wie möglich seine Strafe abholen kommen, lässt ausrichten die Philosophie- und Sportlehrerin Helena Jakubowicz, die in ihrer Freizeit das Herz und die Angst von Bruno Schulz beherrscht.
Zwischen all den schrecklichen Ablenkungen schreibt Schulz fleißig seinen Brief an Thomas Mann weiter, berichtet von den absonderlichen Ereignissen, die im Gefolge des Betrügers Einzug halten, und auch von der bevorstehenden Katastrophe. Der Doppelgänger ist ein Nazispion, der Informationen über die Juden sammeln und somit die Übernahme des Dorfes erleichtern soll.
"Wer soll sich um uns kümmern, wenn die Russen oder die Deutschen kommen?" (...) "Onkel Bruno, das ist doch klar. Zusammen mit den Nutten aus der Stryjstraße und seinen Warschauer Schriftstellerfreunden wird er schon wissen, was zu tun ist." Worauf Bruno erschrocken einen leisen Pfiff ausstieß und dem Sofa einen kleinen Klaps gab, und sofort trippelte es mit ihm aus dem Wohnzimmer in die Bibliothek, damit er wieder ungestört sein konnte.
Auf verstörende Art werden im Buch die innere Welt des Bruno Schulz und die äußere Welt Mitteleuropas im Jahre 1938 zusammengebracht. Manches liest sich wie übertriebene Darstellung eines schreckhaften Mannes im Angesicht einer komplizierten und feindseligen Alltagswelt – das Wort kafkaesk wird gern zur Bezeichnung von Schulz´ Stil verwendet – doch im Verlauf der Lektüre wird das Bild immer düsterer, die Fantasien, Vorahnungen und Ängste ergänzen sich, finden ihre Entsprechungen auch außerhalb des Kellers und des Briefes, bis das gesamte Grauen sich in seiner Realität offenbart und Allem ein Ende bereitet. Der Überfall auf Polen liest sich mit jeder Seite deutlicher zwischen den Zeilen der Geschichte vom Doppelgänger - und auch der Untergang des Schriftstellers liegt in der Luft.
Thomas Mann ist Ziel der Bewunderung, ein Exponat besonderer Kultur, ein herausragender Geist, eine Bereicherung für die Menschheit – der falsche Thomas Mann hingegen ist ein Flegel, ein Dummschwätzer und Sadist. Letzterer ist Vorbote der Naziverbrechen, der Gewalt und Erniedrigung, er macht sich die Einwohner des Dorfes zu Sklaven, zwingt sie schon einmal in die Rolle der Opfer, auf dass sie darin verbleiben, wenn die Panzer kommen.
Der Brief an den Schriftsteller ist auch ein Appell an den Geist, die Moral, die sich im Untergang befanden in Europa, in den Personen, die ihren kleinen Beitrag zur Geschichte geleistet haben. Es ist die Bitte, dass die Menschlichkeit doch wieder zurückkehre, das Grauen und die Irreführung des Geistes ein Ende nehme, doch sie bleibt vergebens, geht unter in der allgemeinen Katastrophe, findet nicht den Weg zu ihrem Adressaten. Der Brief ist das Flehen eines Toten, der vor dem Untergang aus der Angst noch die Muße zum Schreiben schöpft.
Bruno Schulz verbrachte sein Leben größtenteils in Drohobycz (heutige Ukraine), wo er 1892 geboren wurde und 1942 starb. Er war polnischer Schriftsteller und Zeichner, dessen Arbeit in Polen recht bekannt war, aber erst später in andere Sprachen übersetzt wurde. Der aus einem jüdischen Haushalt stammende Schulz musste nach der Besetzung seiner Heimatstadt durch die deutsche Armee in das lokale Ghetto übersiedeln, wurde vom SS-Mann Felix Landau zu künstlerischer Arbeit gezwungen und letztlich auf offener Straße erschossen.
Maxim Biller schreibt seit den Neunzigern, ohne sich auf ein Genre festzulegen, mit viel Erfolg. Er wurde gefeiert als moderner jüdischer Autor in Deutschland, Reich-Ranicki lobte seine Intelligenz und Aggressivität, die Kontroverse um seinen Roman Esra schlug hohe Wellen, seit sechs Jahren arbeitet er an einem großen Roman, welcher demnächst erscheinen soll.
Das Buch enthält sechs Zeichnungen von Bruno Schulz, welche wohl beim Entstehen des vorliegenden Buches geholfen haben, denn sie harmonieren in höchstem Maße mit der Stimmung, die der Text so eindrucksvoll zu schaffen weiß. Besonders der devote Charakter von Schulz, der Erotik und Sicherheit zu Füßen strenger Frauen vorstellte und mit präzisen Strichen zeichnete, wird in den eingeschobenen Bildern deutlich. Diese schwarz-weißen Einblicke in die Psyche des geschundenen Schriftstellers haben zudem den Effekt, Schulz als Künstler vorstellig zu machen. Wenn Biller ihm Worte in den Mund legt, dann nicht ohne sich prüfen zu lassen: die Bilder sind eindrucksvoller Beweis für die Feinfühligkeit des Autors, die ihm dieses Buch erst erlaubt hat. Biller kann nicht in den Kopf von Schulz, die Bilder zeigen aber, dass sein Versuch trotzdem geglückt ist und der Leser fühlt sich noch mehr in die emotions- und fantasiereiche Welt von Schulz gezogen.
Die sprachlichen Bilder von Biller reihen sich nahtlos ein, bedrückend führt er dem Leser verschiedene Arten von Gewalt und Herrschaft vor, bis er abbricht vor dem Ende der Geschichte. Die erste Gewalt geht von der fast übermächtigen Angst aus, die Schulz mit Leichtigkeit erschüttert, die zweite findet eine sadistisch-liebevolle Form in der Lehrerin Helena, die ihm Sicherheit geben kann, die dritte erscheint als Thomas Manns Doppelgänger, dem Schulz misstrauisch gegenübersteht, letztlich aber doch den Wagen zieht und ihn um Schläge bittet. Die letzte Gewalt bricht zwar ins Dorf Drohobycz, doch der Tod des Schriftstellers wird nicht gezeigt, das Buch endet mit dem Überfall der Deutschen und einem Bruno Schulz, der gleich einem Hund durch die Gassen kriecht, auf dem Weg zur Schule, um seine Bestrafung zu erhalten.
Wenn dieses Buch einen Makel hat, dann ist es seine Kürze, gern würde man ein paar Tage zubringen in der faszinierenden Welt, welche sich auftut im Kopf des Künstlers, zu schnell endet die Achterbahnfahrt und damit die großen Vergnügungen und Schrecken für den Leser. Ein großes Buch, welches fast an seiner Fülle zu ertrinken droht, wovon sich jedoch niemand abschrecken lassen sollte.
Maxim Biller, Kiepenheuer & Witsch
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