San Miguel

  • München: Carl Hanser, 2013, Seiten: 448, Übersetzt: Dirk van Gunsteren
  • New York: Viking Adult, 2012, Titel: 'San Miguel', Originalsprache
San Miguel
San Miguel
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Sebastian Riemann
721001

Belletristik-Couch Rezension vonNov 2013

Eine zerklüftete Insel, öde und einfach

Mal wieder hat T.C. Boyle einen historischen Gesellschaftsroman vorgelegt, der immer noch aktuell ist. Der Leser findet sich auf einer der Channel Islands vor Kalifornien wieder – wie schon in Boyles letztem Roman – und begleitet Menschen, die ihre wahre Bestimmung suchen, indem sie sich abwenden vom Überfluss und der Scheinheiligkeit der zivilisierten Welt. Die Flucht in die Natur verspricht ihnen Erlösung und Reinheit, Überwindung der gesellschaftlichen Zwänge und Werte. Auf San Miguel gibt es wenig Abwechslung, Gebüsch bedeckt das Eiland, Robben bevölkern die Strände, Mäuse ziehen durchs Haus und meistens weht ein starker Wind. Das einfache Leben auf der Insel bringt jedoch einige Überraschungen mit sich und stellt die Bewohner vor schwerwiegende Fragen.

Der Roman besteht aus drei Teilen, sie erzählen die Geschichten dreier Frauen auf der Insel San Miguel. Marantha ist die Erste: sie ist schwindsüchtig, die Kraft weicht aus ihrem Körper, ihr Leben neigt sich dem Ende zu und zum Zwecke der Erholung setzt sie 1888 samt Mann und Tochter auf die Insel über. Will, ihr Mann, hatte sie überredet zu diesem Schritt, sie könne an der guten Luft gedeihen und er Geld mit der Schafzucht machen. Marantha, eine Frau aus gutem Hause, verzweifelt in der Einöde und versucht die Etikette aufrecht zu erhalten, verbietet ihrer Tochter den Umgang mit dem Gehilfen und lässt die Arbeiter nicht am gleichen Tisch essen. Ihre Ehe und Gesundheit verschlechtern sich zunehmend, der Rückzug auf das Festland ist ihre letzte Hoffnung. Ihr Ende ist jedoch gekommen, der Aufenthalt auf San Miguel hat sie dem Tod in die Arme getrieben.

Die zweite Frau im Roman ist Edith, die Adoptivtochter Maranthas. Nach der Rückkehr besucht sie eine Schule für junge Damen, erhält endlich die Bildung und den Umgang, die ihr zustehen und wonach sie sich so lange sehnte. Doch nach dem Tod ihrer Mutter muss sie feststellen, dass Will wieder auf die Insel will, Schafe züchten. Edith soll ihn begleiten, den Haushalt führen. Gegen ihren Willen wird sie nach San Miguel gebracht, wo sie lernt eine Hausfrau zu sein, während ihre Gedanken sich um Wege der Flucht und ihr zukünftiges Leben als Schauspielerin drehen. Nach mehrfacher Enttäuschung gelingt es ihr dem tyrannischen Vater zu entfliehen.

Die dritte Protagonistin, Elise, hat sich von ihrem Ehemann überreden lassen, das Leben auf der Insel zu verbringen und sie ist glücklich mit ihrer Entscheidung. Die beiden arbeiten viel, genießen die einfache Natur und die Zweisamkeit:

 

"... und dann kam der ruhige Abend, den sie damit verbrachten, am Ofen zu sitzen und einander vorzulesen, und schließlich gingen sie zu Bett, wo es dunkel war und sie ihn an ihrer Seite spürte. Sie nannte ihn Adam, er nannte sie Eva."

 

Während sie Schafe hüten wandelt sich die Welt auf dem Festland und dem Rest der Welt in dramatischer Weise. Die Great Depression lässt die Amerikaner in Armut versinken, konservative Kräfte setzen das Alkoholverbot durch und der zweite Weltkrieg bricht aus. Auf der Insel verändert sich jedoch zuerst wenig, sie existiert nur am Rande der Gesellschaft, ist nicht den starken Schwankungen ausgesetzt wie der Rest des Landes. Der Lebensstandard bleibt erhalten, weil er ohnehin niedrig ist, die Gäste bringen Schnaps mit, so wie früher. Es scheint als ob San Miguel dem Wandel der Zeit widerstehen kann. Mit den Jahren nehmen aber die Einflüsse vom Festland zu: Reporter kommen und berichten über die Aussteigerfamilie, die Navy untersucht die Insel, stationiert während des Krieges zwei junge Soldaten dort. Immer weniger kann sich die Familie den Auswirkungen der Weltgeschichte entziehen, ihr Traum vom selbstbestimmten Leben zerplatzt letztendlich auf furchtbare Weise.

San Miguel ist ein gelungener historischer Roman über die amerikanische Gesellschaft, weil er es versteht Fragen aufzuwerfen und das alltägliche Leben abzubilden. Die drei Frauen stehen im Mittelpunkt des Interesses, aber schnell merkt man, wie die Männer sie bestimmen – sie alle landen auf San Miguel aufgrund männlicher Initiativen. Oft werden sie von den Männern benutzt, Edith ist nur der augenscheinlichste Fall. Die Rollen sind klar verteilt, die Frauen bleiben im Haus, putzen und kochen, während die harte, körperliche Arbeit den Ehemänner und Vätern vorbehalten ist. Diese einfache Auffassung von Familie geht einher mit einer Idee von Reinheit und Natur. Auf San Miguel zu leben bedeutet das vorherige Leben zurücklassen, mit all seiner Zivilisation: Theaterbesuche, Abendgesellschaften, die neuste Mode, neue Gedanken – alles wird eingetauscht für Wind, Felsen und Schafe. Immer wieder wird die Insel mit dem Leben auf dem Festland verglichen – je nach Perspektive fällt das Resultat unterschiedlich aus, manches wird vermisst, auf andere Dinge wird mit Abscheu zurückgeschaut.

Die Insel trennt ihre Bewohner vom Rest der Menschheit und erlaubt einen Blick auf das, was übrig bleibt, wenn die bekannten Umstände wegfallen. San Miguel gehört nicht zur Gesellschaft und ermöglicht dadurch einen einzigartigen Blick auf eben jene Gesellschaft. Leider fehlt dem Buch ein klares Konzept sowie ein definierter Rahmen, viele Lücken können dadurch nicht gefüllt werden. Der Einblick in die damaligen Zeiten bleibt fragmentarisch und unzusammenhängend, weil Boyle mehr als fünf Jahrzehnte an der eintönigen Insel und seinen Bewohnern vorbeiziehen lässt ohne sich einem Thema ernsthaft zu widmen. Die Erzählung ist authentisch, weil der Autor nichts erzwingt, verliert aber an Aussagekraft. Unerfreulich ist auch, dass der dritte Teil des Buches keine Verbindung zu den beiden ersten Teilen aufweist, mitunter scheint es, dass Boyle Material für zwei Romane zusammengeführt hat, ohne sich jedoch viel Mühe zu machen ein Ganzes zu schaffen. Trotzdem ist es ein aufschlussreicher Blick auf die damaligen Verhältnisse, gerade weil die Personen aus der Ferne auf die zivilisierte Welt, ihre Vorzüge und Grauen schauen.

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