Damals, jetzt und überhaupt

  • New York: Farrar, Straus and Giroux, 2013, Titel: 'See now then', Originalsprache
Damals, jetzt und überhaupt
Damals, jetzt und überhaupt
Wertung wird geladen
Kathrin Plett
551001

Belletristik-Couch Rezension vonNov 2013

Das Auseinanderbrechen einer Familie - oder wie aus Liebe Hass wird

Liebe. Liebe zwischen Ehemann und Ehefrau, Vater und Mutter, Sohn und Vater, Vater und Tochter, Tochter und Mutter, Mutter und Sohn. Die perfekte Familie, Vater, Mutter, Kinder, Friede, Freude, Sonnenschein. Doch, was wenn die Liebe nicht mehr vorhanden ist, wenn die Liebe, die für die Stabilität dieser Konstruktion verantwortlich ist, beginnt sich zu lösen? Sie einseitig verschwindet, nicht wahrgenommen wird von der anderen Seite? Nur von enem noch intensiv empfunden wird? Welche Abgründe sich in Gedanken dann auftun, schildert Jamaica Kincaid in ihrem Roman Damals jetzt und überhaupt.

Mrs Sweet, Mr Sweet und die zwei fast erwachsenen Kinder Persephone und Heracles leben in einem kleinen neuenglischen Dorf, in einem Shirley-Jackson-Haus mit direktem Blick auf den Paran River. Mrs Sweet wuchs auf einer Karibikinsel auf und kam mit einem Bananendampfer ins Land. Mr Sweet ist ein wenig erfolgreicher Komponist aus gutbürgerlichem Haus aus New York. Alles könnte so schön sein, doch mit der Zeit beginnt sich die doch so unterschiedliche Herkunft der Eheleute immer mehr zwischen sie zu drängen. Die Gefühle kehren sich um, aus Liebe wird Hass, Mr Sweet hasst das Landleben, die Einfältigkeit seiner Frau, ihr inzwischen unattraktives Aussehen, welches sie ihrem zügellosen Essverhalten zu verdanken hat. Auch bei Mrs Sweet hat sich die Liebe verändert, die Liebe zu ihren Kindern, die ihr in ihren Augen ein eigenes und unabhängiges Leben geraubt haben. Und auch bei den Kinder beginnt die Liebe zu den Eltern zu bröckeln. Doch die Sprachlosigkeit innerhalb der Familie errichtet eine Scheinwelt, die mit der Realität nicht mehr viel gemein hat.

Jamaica Kincaid wurde 1949 auf der Karibikinsel Antigua geboren. Kincaid hat bereits mehrere Prosabände und Romane veröffentlicht und wurde für ihre Arbeit mit  zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Sie unterrichtet an der Harvard University afrikanische und afro-amerikanische Studien und englische und amerikanische Sprache und ist Professorin für Literatur am Claremont Mc Cenna College.

Damals, jetzt und überhaupt erzählt die Geschichte einer zerrütteten Familie, die sich selbst ihrer Situation noch nicht bewusst zu sein scheint, denn es herrscht vor allem eins: Sprachlosigkeit. Keiner spricht über seine Gefühle, doch innerlich wächst der Hass und zerfrisst die Liebe. Jamaica Kincaid beschreibt in ihrem Werk aus wechselnder Perspektive die Gedanken und Empfindungen ihrer vier Protagonisten, wobei die Beziehung der Eltern eindeutig im Vordergrund steht. Dabei verstrickt die Autorin Erinnerungen und Gegenwart, die sich in den Gedanken ihrer Figuren zu einem verworrenen Ganzen vermischen. Sehnsüchte treffen auf harte Realität, werden idealisiert, so dass die Gegenwart vollkommen ernüchtert. Damals, jetzt und überhaupt lautet das Fazit, wenn die Retrospektive wieder im Hier-und-Jetzt landet und einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt.

Kincaid verknüpft in ihrem Werk geschickt Sprache und Inhalt, wenn sie die Gedanken der Sweets schildert. In langen Sätzen, die nicht selten eine halbe Seite einnehmen, überschlagen sich die Worte regelrecht und machen spürbar, welches Gefühlschaos in den Figuren herrschen muss, welcher aufgestaute Hass:

 

"Und Mr Sweet, der weiter schmollte, obwohl dieses Wort zu harmlos ist, um seine Verstörung, seinen Hass, seine Verwirrung zu beschreiben, dachte sich eine Reihe von Gerichten aus, die er Mrs Sweet gerne serviert hätte, so er denn hätte kochen können: ein Soufflé aus einem kleinen Baby ohne Namen; pochiertes Baby ohne Namen; Heracles-Rückenstück mit Zitrone und Thymian; sie würde diese Gerichte hinunterschlingen, denn sie aß liebend gern, das konnte jeder sehen, an ihrer zunehmenden Taille, ihren dicker werdenden Oberarmen, ihren Augenlidern, den Ohrläppchen, ihren Fesseln, die Stuhlbeinen im Wohnzimmer wohlhabender Leute glichen, die geliebte domestizierte Tiere darstellen sollten; oh, wie Mr Sweet Mrs Sweet hasste: Sie sah aus wie etwas zu essen, doch danach würde man sogar den Gedanken ans Essen hassen; und er konnte ihren massigen, übermäßig wohlgenährten Körper tot sehen, irgendwo in den Hügeln von Montana oder Vermont oder so, nicht wahr, wo die Blätter sich golden, gelb, rot verfärbten, weil sie demnächst auf die Erde fallen und zu einer Metapher werden, und Metaphern sind das eigentliche Reich des schöpferischen Menschen."

 

Immer wieder leitet die Autorin ihre Sätze mit einem "oh" ein, was den Effekt höchster innerlicher Empörung verstärkt und die Mächtigkeit der Emotionen hervorhebt. Gleichzeitig verliert der Roman durch die vielen stilistischen Mittel an Lesbarkeit und wird schwer verständlich. Die vielen Wiederholungen sind gewöhnungsbedürftig, genauso wie die teilweise drastischen Metaphern, wie etwa die des "pochierten Babys".

Alles in allem ist Damals, jetzt und überhaupt ein ungewöhnliches Buch, voller Metaphern und Stilmittel. In Kombination mit endlosen Sätzen liest es sich auf diese Weise schwer. Auch der hassdurchtränkte Inhalt erfordert sicherlich eine große Portion schwarzen Humor, um Freude an dem Buch zu haben. Ein durchwachsenes Buch, welches sicherlich nicht jedem gefällt und eher etwas für Liebhaber düsterer Geschichten ist.

Damals, jetzt und überhaupt

Jamaica Kincaid, Farrar, Straus and Giroux

Damals, jetzt und überhaupt

Ähnliche Bücher:

Deine Meinung zu »Damals, jetzt und überhaupt«

Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!

Letzte Kommentare:
Loading
Loading
Letzte Kommentare:
Loading
Loading

Film & Kino:
The Crown - Staffel 3

Die Queen in ihrer vordergründig repräsentativen Rolle ist eine zeitgeschichtliche Ikone, sodass der Erfolg der seit 2016 bei Netflix laufenden Serie „The Crown“ nicht verwundert. Die dritte Staffel markiert allerdings einen Umbruch: Die Royal Family ist in den 60er-Jahren angekommen und viele Rollen werden neu besetzt, da auch die Blaublüter nicht vor dem Altern gefeit sind. Titel-Motiv: © Des Willie / Netflix

zur Film-Kritik