immeer

  • Zürich: Dörlemann, 2013, Seiten: 190
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Kathrin Plett
911001

Belletristik-Couch Rezension vonAug 2013

Verloren in Erinnerungen

Wenn ein geliebter Mensch stirbt, ist es für die Hinterbliebenen besonders schwer: Verlassen, einsam, alleine - und das Gefühl, dass etwas fehlt. Auch für Eva ist nach dem Tod von Jan nichts mehr, wie es war. Nicht nur er ist es, der gestorben ist. Auch ein großer Teil von Eva ist nicht mehr in der Lage, ins Leben zurückzufinden. Denn sie waren ein gutes Team, Jan und sie, und zeitweise auch Heiner, wie sie alle drei so zusammen in ihrer Berliner WG lebten und das Leben liebten. Doch dann starb Jan - an Krebs - der seit seinem dreizehnten Lebensjahr sein ständiger Begleiter war und irgendwann inoperabel wurde. Mehr und mehr von seinem Hirn wegfraß und nichts mehr von ihm überlassen wollte. Und Eva bleibt alleine zurück, in der großen Wohnung, ohne Jan und auch ohne Heiner, der immer irgendwie zwischen ihr und Jan stand. Die Erinnerungen an Jan sind übermächtig, wie er im Meer schwamm, sie zusammen am Meer waren, immer.

immeer erzählt die Geschichte von Eva, für die mit dem Tod von Jan nichts mehr ist wie zuvor. Eva und Jan kannten sich schon lange, lebten zusammen mit Heiner in einer WG, bis der Krebs schließlich die Macht übernahm und nicht mehr aufzuhalten war und Jan immer mehr von seinem alten Ich nahm. Henriette Vásárhelyi beschreibt in immeer den Schmerz, den Eva empfindet, die Trauer und die Versuche ihrer Mitmenschen, sie aus ihrer tiefen Dunkelheit zu befreien. Auch Monn, der Eva über Jans alte Handynummer kennenlernt, weil er abnahm, als sie Jans wählte und beginnt sie sehr gern zu haben, vermag es nicht, ihre Mauer zu durchbrechen. Eva befindet sich scheinbar in einer anderen Welt, in der nur die Erinnerungen Platz haben, Erinnerungen, die weitaus besser sind, als es die Realität am Ende war und als Eva wahr haben will.

Henriette Vásárhelyi, die 1977 in Ostberlin geboren und in Mecklenburg aufgewachsen ist, ist ausgebildete IT-Systemkauffrau und studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Momentan absolviert sie ihr Masterstudium der Contemporary Arts Practice an der Hochschule der Künste in Bern. immeer ist ihr erster Roman und wurde bereits vor seiner Veröffentlichung mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Prosadebüt ausgezeichnet.

Mit immeer ist Henriette Vásárhelyi ein eindrucksvoller Debütroman gelungen. Einfühlsam und sensibel erzählt sie die Geschichte einer jungen Frau, die nach dem Tod ihres besten Freundes vollkommen die Orientierung im Leben verloren hat. Sie zieht sich immer mehr zurück, lebt von den Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit Jan. Sieht ihn in ihren Träumen, sogar im Hier und Jetzt hört sie ihn. Nichts darf in seinem WG-Zimmer verändert werden, auf die Anrufe seiner Eltern, die seine Sachen abholen wollen, auch Erinnerungen an ihren Sohn haben möchten, reagiert sie nicht. Als sie Jans alte Nummer wählt und Monn abnimmt, trifft sie sich mit ihm. Auch seine Bemühungen lassen sie nicht aus ihrer Lethargie erwachen. Nichts dringt mehr wirklich zu ihr durch und auch der Aufenthalt in der Psychiatrie kann ihr nicht weiterhelfen, da sie nach außen zu klar und fest im Leben zu stehen scheint.

Doch Vásárhelyi gelingt es durch ihre besondere Erzählart die innere Zerrissenheit und tiefe Trauer Evas für den Leser fassbar zu machen und ihn hinter die Fassade blicken zu lassen. Ihre Beschreibung der Gegenwart durchzieht sie mit langen Passagen aus Erinnerungen und Gedanken, die tiefe Einblicke in Evas Seele gewähren. Omnipräsent durchziehen die Erinnerungen das Leben Evas. Nach und nach bekommt der Leser mit, dass Eva immer mehr in eine Scheinwelt abdriftet, die mit der Realität nur wenig zu tun hat. Jan, der für sie alles bedeutete, war homosexuell, fühlte sich zu Heiner hingezogen, was für Eva unerträglich war und die Eifersucht in ihr entflammen ließ:

 

"Ich will mit Jan ein sauberes kleines Leben. Jan will aber nur noch Heiner. Heiner hier und Heiner da, wie man sagt und ich bin, das sagt man auch so: Das fünfte Rad am Wagen. Ich will ihn verscheuchen und diesen Siff und diese Junkiescheiße. Ist mir egal, wie man nun dazu sagt im Volksmund. Frieden, Sicherheit und Stabilität."

 

Mit seismografischem Gespür vermag die Autorin die Stimmung Evas zu beschreiben, beinahe poetisch gibt sie die Gedanken ihrer Protagonistin wieder:

 

"Überall um mich herum liegt Glück. Ich kann es ansehen. Aufheben und es mir einheimsen kann ich es nicht. Kann ich?"

 

Gerade der Stil der Autorin ist es, der das Besondere des Romans ausmacht. Mit Worten untermauert sie die Seelenlage, die innere Verlorenheit Evas:

 

"Ich und ich, wir erzählen uns, was wir erinnern. Stimmen über ihn. Wir rückversichern uns. Wir bleiben uns. Ich und ich und er. Hier jetzt ich und er und dort damals wir. Dann und wann."

 

Auf diese Weise ergibt sich eine geschickte Mischung aus Vergangenheit, Gegenwart, Realität und Scheinwelt, eine eigene Welt, zu der nur Eva Zugang hat und an der Vásárhelyi den Leser teilhaben lässt.

Alles in allem hat Henriette Vásárhelyi mit immeer ein eindrucksvolles Debüt geliefert. Durch ihr spezielles Sprachgefühl und ihren Wechsel zwischen Gegenwart und den Erinnerungen Evas ist ihr ein einfühlsamer Roman gelungen, der dem Leser tiefe Einblicke in Evas Psyche gewährt und die Geschichte auf diese Weise besonders prägnant macht. Ein empfehlenswerter und berührender Roman, der nachdenklich macht.

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