Honig

  • Diogenes
  • Erschienen: Januar 2013
  • 1
  • London: Jonathan Cape, 2012, Titel: 'Sweet Tooth', Originalsprache
  • Zürich: Diogenes, 2013, Seiten: 9, Übersetzt: Eva Mattes
  • Zürich: Diogenes, 2014, Seiten: 464
Honig
Honig
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Almut Oetjen
841001

Belletristik-Couch Rezension vonJul 2013

Kulturpolitik der Geheimdienste

In den frühen 1970er Jahren studiert Serena Frome in Cambridge Mathematik ohne Interesse am Fach, dafür umso mehr an Literatur, über die sie in der Kolumne einer Studentenzeitung schreibt. Ihr politisches Interesse bringt sie mit dem Professor Tony Canning zusammen. Es entwickelt sich eine Liebesbeziehung, durch Canning gerät Serena an den britischen Inlandsgeheimdienst MI5. Nach einer kurzen Zeit als Sekretärin mit Mathematikabschluss wird ihr der Vorschlag gemacht, ihr Interesse an Literatur zu nutzen und in einem Geheimdienstprojekt namens "Operation Honig" mitzuarbeiten. Als Mitarbeiterin einer Institution zur Kulturförderung soll sie während des Kalten Krieges den Schriftsteller T.H. Haley für das Institut gewinnen. Haley soll als Stipendiat seinen ersten Roman schreiben dürfen, ohne nebenher seinem Brotjob an der Universität nachgehen zu müssen. Der MI5 verfolgt mit diesem Vorhaben natürlich ein politisches Ziel.

Ein Charakter, geboren aus der mehrfachen Lüge

Ian McEwan verbindet in seinen zwölften Roman Honig zwei Erzählstränge miteinander, einen gesellschaftlichen und einen privaten. Auf der gesellschaftlichen Ebene geht es um den Kalten Krieg und das England vor der Ära Margaret Thatcher, um die Energiepreiskrise und die sich daraus ergebenden Verteilungskonflikte, offene Machtkämpfe in einer Wirtschaft, die sich nur schadet, die die Arbeitslosigkeit und die Inflation antreibt. In dieser Zeit erreichen die Terroranschläge der IRA einen Höhepunkt. Anschläge, bei denen wahllos Menschen ermordet und die von der Linken überwiegend gutgeheißen werden. Die wirtschaftspolitische Atmosphäre erzeugt bei vielen Menschen, so auch Serena, den Wunsch nach Fluchtmöglichkeiten, zu der auch eskapistische Literatur gehört.

Serena liebt Liebesromane, die mit einer Eheschließung enden. Sie zieht Literatur vor, in der sie sich und ihr Leben gespiegelt sieht. Den doppelten Boden mag sie nicht, obwohl gerade dieser zu ihrem Alltag wird. Als sie Alexander Solschenizyn liest, wird sie zur Antikommunistin. Einer der Texte, durch die Haley in den Fokus des MI5 gerät, ist ein Essay, in dem er westdeutschen Schriftstellern vorwirft, nicht über die Berliner Mauer zu schreiben.

Zu Beginn liest sich Honig wie ein Spionageroman. Serena gleitet auf seltsame Weise während ihrer Mitarbeit im MI5 tief in eine Welt der Paranoia. Sie kann niemandem trauen, bei aller Privatheit, die Menschen in ihrem Umfeld zur Schau stellen. Serena fühlt sich beobachtet, verfolgt, interpretiert bruchstückhafte Informationen im Rahmen zunehmender Paranoia. Ihre Affäre mit Canning scheint mehr gewesen zu sein, als Serena dachte. Und danach kommt Haley, dem sie etwas vorspielt und in den sie sich verliebt, von dem sie jedoch nicht wissen kann, ob er vertrauenswürdig ist und nicht seinerseits mit ihr ein Spiel treibt, das sie nicht versteht. Die Leser und Leserinnen fragen sich: wer ist Serena wirklich? Die Frau, die sie vorgibt zu sein, die Frau der Ich-Erzählung? Ständig belügt sie andere Menschen und sich selbst. Kann sie da aufrichtig ihre Geschichte erzählen? Oder ist es gar nicht ihre Geschichte?

Über das Lesen und die Texterschließung

Ian McEwan erzählt auf scheinbar konventionelle Weise eine Biographie in der Ich-Form. Doch das erweist sich bald als Täuschung, weil ihm an einer geradlinigen und einfachen Geschichte nicht gelegen ist. Es gibt eine interessante Wendung, gekoppelt an eine Art Umkehrung der Herausgeberfiktion. Ein wichtiger Brief rückt irgendwann in den Brennpunkt nicht nur der Handlung, sondern auch der literarischen Ortsbestimmung des Romans. Breiten Raum nimmt in Honig die Lektüre von Haleys Geschichten durch Serena ein. Sie analysiert und interpretiert Haleys Texte, versucht eine biografische Lesart, um ihr Zielobjekt besser verstehen zu können.

McEwan übernimmt wenigstens ein Stück weit die Rolle der Leser seiner früheren Werke, in denen zur Erschließung des Textes Schichten vorsichtig abgetragen werden müssen. In Honig legt er einen Teil der Schichten im Gang der Erzählung selbst frei. Aber können wir seinem Deutungsangebot trauen? Viel vom Lesevergnügen ist darauf zurückzuführen, dass wir getäuscht werden und wenigstens eine Lektüre vollziehen, die uns verunsichert und deshalb das Gelesene verdächtig finden lässt, so dass wir anfangen zu spekulieren und zu deuten.

Ein wenig erinnert Honig an Abbitte, nicht nur in der Form. Auch die Lesart des Romans als eine berührende Liebesgeschichte ist möglich. Eine Liebesgeschichte, in der die Frage mitschwingt, ob ein Mensch einen anderen Menschen als den lieben kann, der er oder sie wirklich ist. Und ob dies möglich ist angesichts der Problematik, dass man sich selbst als Lüge oder Fiktion in diese Beziehung einbringt.

Honig

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