Rechnung offen

  • Berlin: Berlin Verlag, 2013, Seiten: 288, Originalsprache
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Kathrin Plett
451001

Belletristik-Couch Rezension vonJul 2013

Alle für keinen – keiner für Alle

Ein großes Mietshaus im Berliner Stadtteil Neukölln. Flüchtige Begegnungen im Flur, gegenseitiges Grüßen, anschließend verschwindet jeder wieder hinter seiner eigenen Tür, verschließt sie und lebt sein Leben für sich: Die alte Dame, deren Demenz immer stärker wird, die junge Frau, die mit sich und ihrem Sohn vollkommen überfordert ist, die Ägypter, die einen Drogenhandel betreiben oder die von ihnen abhängige Stieftochter des Hausbesitzers. Alle wohnen sie im Kiezhaus, kennen sich eigentlich nicht und haben doch viele Rechnungen untereinander offen.

Claas Jansen, Besitzer eines Berliner Mietshauses, befindet sich in einem rasanten Abwärtsstrudel. Selbst Psychiater verliert er mehr und mehr die Kontrolle über sein Leben, woran nicht zuletzt auch seine starke Kaufsucht einen großen Anteil hat. Auch der Kauf des Hauses gehört zu einem seiner Suchtkäufe, genauso wie die vielen bei eBay getätigten Ersteigerungen. Nach einem Einbruch in seiner Praxis und dem Rausschmiss aus der gemeinsamen Wohnung durch seine Frau, landet er schließlich selbst in einer der leerstehenden Appartements. Stuhl, Isomatte, defekter Kühlschrank und Laptop sind zunächst alles, was ihm in der kargen Behausung geblieben ist, während in seiner alten Wohnung dir Rechnungen immer farbiger werden und schließlich der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht. Doch auch die anderen Mietparteien bewegen sich auf einem schmalen Grad und steuern zusehends auf den Abgrund zu.

Inger-Maria Mahlke wurde 1977 in Lübeck geboren. Nach ihrem Studium der Rechtswissenschaften in Berlin arbeitet sie dort heute am Lehrstuhl für Kriminologie. Seit 2005 nahm sie an verschiedenen Autorenwerkstätten teil und gewann 2008 direkt den 17. "open mike", den Literaturpreis der Literaturwerkstatt für deutschsprachige Literatur-Neuentdeckungen. Nach der Vollendung ihres Debütromans Silberfischchen erhielt sie für diesen mehrere Auszeichnungen. Rechnung offen ist ihr zweiter Roman.

Mahlke erzählt in ihrem Werk die Geschichte verschiedenster Figuren und begleitet sie über mehrere Monate. Jedes Kapitel beschreibt das Leben der Personen an einem bestimmten Tag, beginnend am 29. August und endend am 6. März, wobei meist mehrere Wochen zwischen den einzelnen Daten liegen. Im Zentrum der Handlung steht ein Mietshaus in Neukölln mit seinen Bewohnern, die alle irgendwie miteinander in Verbindung stehen. Finanzielle oder auch beziehungstechnische Rechnungen offen haben und mehr oder weniger in einer Art von Krise stecken. Keiner sieht den anderen wirklich, sie begegnen sich auf dem Flur und bemerken doch nicht, was beim Nachbarn nur eine Tür weiter vor sich geht. Sorgen und Ängste, Einsamkeit und Verzweiflung spielen genauso eine Rolle wie Depression und Resignation. Mahlke entblößt ihre Figuren, zeigt, was hinter der Fassade liegt und nimmt Existenzen auseinander, bis nichts mehr vom äußeren Schein übrig bleibt.

Zwar ist die Handlung detailreich und präzise, sprachlich gewandt und raffiniert, doch vor allem verwirrend. Mahlke springt direkt von Beginn an zwischen den Figuren, so dass der Leser kaum eine Chance hat, die einzelnen Charaktere kennen zu lernen und voneinander zu unterscheiden. Nur schwer wird deutlich, was die jeweiligen Personen auszeichnet, wie sie miteinander in Beziehung stehen. Auch im weiteren Verlauf des Romans sind die Wechsel zwischen den Personen häufig nur schwer zu durchblicken und es stellt sich oft die Frage: Um wen geht es hier eigentlich gerade? Mal spricht Mahlke ihre Figuren direkt an: "Hast einen Stein im Bauch, hellgrau und flach und gleichmäßig abgerundet", mal erzählt sie aus der Sicht der gerade im Mittelpunkt stehenden Person, was die Geschichte nicht richtig zum Fließen kommen lässt. Auch das Ende reiht sich nahtlos in diese Form ein.

Alles in allem ist Mahlke mit ihrem zweiten Roman ein zwar inhaltlich interessantes und von der Idee her spannendes Buch gelungen, welches jedoch durch seinen Stil schwer verständlich und an vielen Stellen vor allem verwirrend ist. Mahlke vermag es freilich präzise auf die Abgründe in unserer Gesellschaft hinzuweisen, doch gehen viele gute Ansätze verloren, da ihnen kaum zu folgen ist.

Rechnung offen ist somit zwar ein interessantes Werk - welches sein Potenzial jedoch nicht ganz entfalten konnte.

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