Der bleiche König

  • Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2013, Seiten: 640, Übersetzt: Ulrich Blumenbach
  • New York: Penguin, 2012, Titel: 'The Pale King', Seiten: 592, Originalsprache
Der bleiche König
Der bleiche König
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Sebastian Riemann
791001

Belletristik-Couch Rezension vonJun 2013

Langeweile, Strapazen, Verwirrung und große Unterhaltung aus dem Alltag

Das letzte, posthum publizierte, Buch von David Foster Wallace ist ein unvollendeter Roman, der trotz seiner fehlenden Geschlossenheit und Endlichkeit ein Erlebnis und eine Bereicherung für den Leser sein kann. Er hat einen ungewöhnlichen, langweiligen Ort zum Gegenstand: die amerikanische Steuerbehörde, Abteilung Mittlerer Westen. Die Mitarbeiter tragen aus der Mode gekommene Hüte, einfache Anzüge und den Kopf nicht allzu hoch. Ihre Fähigkeit über lange Zeit still an einem Tisch zu sitzen und Formulare zu kontrollieren qualifiziert sie für ihre Tätigkeit.

David Foster Wallace konnte die Arbeiten am Bleichen König nicht beenden, hinterließ vielmehr eine Vielzahl an Aufzeichnungen, die durch das Thema Steuerbehörde zusammengehalten wurden. Es fehlt ein roter Faden, eine zentrale Handlung, die dem vielfältigen Geschehen eine Richtung gibt und die verschiedenen Charaktere auf sich vereint. Es gibt nicht eine große, sondern mehrere gleichwertige Erzählungen, die ein Gesamtbild erschaffen. Ein Ensemble aus Protagonisten, lose arrangiert, aber jeder von ihnen ein Grund dieses Buch zu lesen.

Chris Fogle wird von seinen Kollegen als Abschweifungskönig bezeichnet. In einer 110seitigen Selbstdarstellung berichtet er über seine ganz persönlichen Gründe bei der Steuerbehörde zu arbeiten und holt dabei weit aus. Die Familiengeschichte, aber auch die damaligen Jugendbewegungen werden beschrieben und mit dem seelischen Wohl des jugendlichen Fogle zusammengebracht. Die Scheidung der Eltern, der Lebenswandel der Mutter, die trockene Art des Vaters, Perspektivlosigkeit und viele Drogen spielen zusammen, um dem jungen Mann an einen Arbeitsplatz zu treiben, der sich durch Disziplin und Stille auszeichnet. Er blickt zurück und erklärt seine innere Entwicklung bis zum Punkt der Rekrutierung. Kurz darauf berichtet ein gewisser David Foster Wallace über seinen Werdegang und lässt den Leser stutzen. Der vermeintliche Autor des Buches teilt mit dem realen Autor einige biographische Details, andere wiederum nicht. Das lyrische Ich und das Ich des Autors sind sich sehr nah und beide tragen den selben Namen. Ein weiterer Steuerberater, der nicht in Erscheinung tritt, trotzdem involviert ist, tut dies auch. In der Behörde sorgt dies für Verwirrung und Durcheinander, denn die beiden Steuerberater mit Namen David Foster Wallace sollen ihren Dienst am gleichen Tag beginnen, jedoch in unterschiedlichen Abteilungen. Es kommt zur Verwechslung, zum Fehler im System, zur Störung der Ordnung. Gleiches soll mit dem Leser versucht werden, er soll den Autor mit dem lyrischen Ich verwechseln, während er sich auf die Geschichte über die Verwechslung der beiden Steuerberater konzentriert. Derart sind die Späße, derer sich der Verfasser des Buches bedient, um die verschiedenen Charaktere und den Leser miteinander zu verbinden.

Langeweile, sie ist ein nicht zu leugnender Teil des Buches. Sie ist von Bedeutung. Sie ist eine Herausforderung für den Leser und dessen Ausdauer, ist ein Spiel zwischen Autor und Leser. Die detaillierten Ausführungen zur amerikanischen Steuerbehörde, ihrer Funktionsweise, ihrer Hierarchie, den Formularen und all den unspektakulären Aspekten, die diese Institution ausmachen, sind für den Großteil der Leserschaft von keinerlei Interesse. Da diese Passagen mitunter sehr lang sind, schleicht sich in regelmäßigen Abständen die Idee ein, hier und da eine Fußnote oder einen Absatz zu überspringen. Es sind Flutwellen von Details, die immer wieder über den Geist rollen und nichts zurücklassen. Die Überlegungen zum 1040er Formular und dem dazugehörigen Memo nehmen viel Platz ein. Je mehr man über die Änderung in Zeile 44 erfährt, desto mehr ist man geneigt einen Teil des Textes auszulassen. Oder würde man etwas Wichtiges verpassen? Oder vielleicht eine Information nicht aufnehmen, die der Änderung in jener Zeile und dem ganzen Formular einen weiterreichenden Sinn gibt? Der Autor spielt mit dem Leser, strapaziert seine Nerven, stellt seine Art der Lektüre in Frage.
Die Langeweile wird jedoch durch sehr unterhaltsame Stellen ausgeglichen. Die Mitarbeiter der Behörde sind skurrile Personen, mitunter haben sie übernatürliche Fähigkeiten, manchmal einen sehr trockenen Humor. Foster Wallace weiß, was er seinem Publikum zumutet und ist um Entschädigung bemüht.

Der Autor lässt den Leser an den Erlebnissen und Gedanken verschiedener Charaktere teilhaben, aus ihrer Sicht werden verschiedene Teile der Steuerbehörde gezeigt oder auch persönliche Geschichte erzählt, die erklären, wie jemand an einem so langweiligen Arbeitsplatz landen und dort eine Art der Erfüllung finden kann. All dies geschieht mit großer Stilsicherheit. Die einzelnen Personen weisen in ihren Kapiteln eine prägnante Lebenssicht auf, die sich gleichsam in einer eigenen Ausdrucksweise niederschlägt. Die Personen werden dadurch sehr lebendig, ihre Art zu denken und reden unterscheidet sich merklich von den Anderen. Hinzukommen die psychischen Eigenarten, mit welchen der Autor nicht sparsam umgeht. Angst, Furcht und Nervosität finden sich bei nahezu allen Charakteren, jedoch in unterschiedlichen Erscheinungsformen. All diese Beschreibungen erlauben es dem Leser im Verlauf des Buches bereits bekannte Charaktere wiederzuerkennen, wenn sie nicht benannt und stumm am Rande einer anderen Erzählung auftauchen. So erlebt man die Fahrt im Auto zur Steuerbehörde aus der Sicht einer Person mit dem Namen David Foster Wallace. Man wird dabei mit seinen Sorgen und Überlegungen vertraut, seiner Unsicherheit inmitten anderer Angestellter. Spaßig wird seine Sicht, da sein Sitznachbar so stark schwitzt, dass Wallaces Anzug nass wird. Interessant wird es da man jenen Schwitzer bereits kennt, auch seine Nervosität, sowie die Angst entdeckt zu werden. Zwei von ängstlichen Überlegungen geplagte Männer sitzen nun nebeneinander, bleiben gleichsam getrennt. Der Leser bewegt sich in den unruhigen Gedanken von Wallace und spürt die schwitzende Angst neben ihm, da sie ihm in einem vorherigen Kapitel bekannt gemacht wurde. In einem Moment wie diesem verwandelt sich die belanglose Autofahrt zum Arbeitsplatz in ein Bild vom individuellen Kampf. Ohne Glanz, ohne große Bedeutung, ohne Anerkennung sitzen die beiden Männer im Wagen und versuchen das Beste aus der gegebenen Situation zu machen. Sie kämpfen indem sie erdulden und schweigen, sind kleine Rädchen in einer entmenschlichten Maschinerie. Tragisch-komisch sind sie dabei, man empfindet Mitleid und Sympathie, muss aber auch lachen über ihre Eigenarten. Sie helfen sich nicht, um gemeinsam die unangenehme Fahrt und vielleicht später den drögen Alltag zu überstehen, sondern bleiben in den eigenen Sorgen gefangen. Ein bewegendes und nachdenkliches Bild, gezeichnet mit Schweiß auf Aktentaschen und Anzügen mit Hüten.

Wo liegt nun aber der Unterhaltungswert dieses unvollendeten Romans mit seinen langen, langweiligen Passagen? Es sind die Einzelbiographien und ihr Aufeinandertreffen in öden Alltagssituationen. Foster Wallace hat sich die Steuerbehörde ausgesucht, da sie ein überaus realer Arbeitsplatz ist, an dem die Mitarbeiter keine Heldentaten vollbringen, sondern beharrlich ihre Arbeit machen. Es ist übertriebener Realismus, der erst lesenswert und unterhaltsam wird durch die ihn bevölkernden Charaktere. Mittels ihrer physischen, psychischen und übernatürlichen Eigenarten erwecken sie viel Interesse und können den Leser an sich binden. Sie beleben einen entmenschlichten Ort, der stellvertretend für die Lohnarbeits-Gesellschaft steht, und zeigen wie Überlebenskampf heute aussieht.

Der bleiche König

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