Frühling auf dem Mond

  • Suhrkamp
  • Erschienen: Januar 2013
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  • Berlin: Suhrkamp, 2013, Seiten: 252, Übersetzt: Valerie Engler
Frühling auf dem Mond
Frühling auf dem Mond
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Britta Höhne
861001

Belletristik-Couch Rezension vonJun 2013

Im Mondlicht stehend der Realität entkommen

"Interessante Selbstgespräche setzen einen klugen Partner voraus", wird dem britischen Autor und Science Fiction-Meister H. G. Wells in den Mund gelegt. Und eben genau das scheint sich Julia Kissina auch gedacht zu haben, als sie ihre junge Protagonistin Julia erfand. Sie schreibt Briefe an sich selbst – zu lesen in naher und ferner Zukunft. Dann vielleicht, wenn das verträumt, rebellische Mädchen in den letzten Sowjetjahren keine Personen mehr in ihrem Umfeld weiß, dem sie sich anvertrauen kann. Kissinas Roman trägt den deutschen Titel Frühling auf dem Mond und ist so herrlich schrill, dass es schwer fällt, ihn aus der Hand zu legen.

Wer sich die Vita der 1966 in Kiew geborenen Autorin und Künstlerin Julia Kissina ansieht, ahnt, das sich dahinter eine interessante Frau verbergen muss. Genau so interessant wie sie selbst, kommen ihre Romanfiguren daher. Zuvorderst natürlich die zwölfjährige Julia, die gerne provoziert, streitet, sich nicht nur Briefe schreibt, sondern auch beschließt, sich des Lunatismus anzunehmen: Im Mondlicht stehend der Realität abzuschwören.

Ihr Vater indes lebt in ständiger Angst entdeckt und denunziert zu werden. Er schreibt Texte für eine Zirkusrevue und diskutiert nächtelang mit den Führern des Weltproletariats über aktuelle Geschehnisse. Julias Mutter - nicht minder merkwürdig – hat einen altruistischen Zwang und weint auf Vorrat. Sie scheint vernachlässigte Menschen zu sammeln, um sich ihrer anzunehmen.

Dann ist da noch Julias außergewöhnliche Freundin, die der russischen Dichterin Marina Zwetajewa nacheifert, sich in einen Toten verliebt und nachts die Geister ruft.

Die ganze Geschichte spielt in einem Hochhaus am Rande der Kiewer Altstadt - in der ganze Straßenzüge der Abrissbirne zum Opfer fallen. Die Gegend ist keine, in der ein junges Mädchen unbeschadet aufwachsen – auch keine, in der ein kreativer Vater seine kreativen Gedanken unbelastet zu Papier bringen kann. Input hat er reichlich – raus kommt eine Zirkusrevue, auch, weil er sich mehr nicht traut.

Kissinas Roman ist eine Rückschau in ihr eigenes Leben. In das der untergehenden Breschnew-Ära, in der selbst KGB-Offiziere lieber Gedichte schreiben, als vermeidliche Staatsfeinde zu verhören. Das Land ist im Verfall begriffen, eine Zukunft gibt es nicht. Alles was lebt und zählt ist die Vergangenheit, zu dessen wichtigsten Interieur das Anatomische Theater zählt. Dort wird aufrecht erhalten, was stirbt. Morbide gar findet es immer wieder Erwähnung.

Julia entkommt ihrem Elternhaus, der leidenden Mutter, dem Vater, der gerne ein großer Schreiber wäre. Sie schließt sich ihrer sonderbaren Schulfreundin Kulakowa an, die sich einen Dornenkranz bindet und nachts die Geister ruft. Julia spricht lieber mit dem Mond, lässt sich aber von ihrer exzentrischen Freundin dazu hinreißen, ebenfalls in die Welt der Geister hinab (hinauf?) zu steigen.

Lieben und geliebt werden, wird zum erklärten Ziel der beiden Heranwachsenden. Julia versucht es mit Wolfgang, was scheitert. Kulakowa bevorzugt einen Toten. Dann taucht doch noch ein Lebender auf, angeblich ein Künstler, der Julias Herz lebendig werden lässt: "Neben Leon zu gehen war selbst in meinen zu großen, klobigen Stiefeln schwindelerregend leicht, und im Grunde genommen war mir ganz egal, wovon er sprach, weil alles was er sagte, unsäglich wichtig war." Gemeinsam mit Leon plant sie, in das viel zitierte Anatomische Theater einzusteigen. Dem Maskenball in Schnitzlers Traumnovelle nicht unähnlich.

Julia Kissina hat einen wunderbar verrückten – der Norm entrückten – Roman geschrieben. Valerie Engler hat ihn gekonnt ins Deutsche übertragen. Was sicher nicht leicht war, da Kissina mit der Sprache spielt. Sie phantasiert sich nicht nur in den Kopf eines zwölfjährigen Mädchens hinein, sie spinnt auch noch eine wirre Sprache zurecht, die surrealistisch daher zu kommen scheint. Ohne Sinn und Verstand und doch so unglaublich leicht und schön. Wie der Tausendsassa Boris Vian steigt sie ab in Welten, in die nur besondere Personen Zugang finden. In die Welt einer Julia oder in die des Colin (Vian, Der Schaum der Tage). Auch im Roman mit Kokain (M. Agejew) stecken ähnliche Traumsentenzen, oder solche, die das Rauschmittel verursacht.

Nichtsdestotrotz geht es in allen genannten Romanen um die Liebe. Um Zärtlichkeit, darum, den anderen mit all seinen Macken gewogen zu begegnen. Kissina prägt ein tiefes Menschenbild, voller Aufs und Abs jedes einzelnen Protagonisten. Und am Ende sind sie alle liebenswert, oder haben etwas Liebenswertes an sich, egal, was die Geschichte vorab über sie verzeichnet hat.

Abschließend trifft doch noch ein Zitat auf Julia zu. Eines des Berufszynikers Oscar Wilde: "Ich führe oft lange Unterhaltungen mit mir selber, und ich bin so gescheit, dass ich manchmal nicht ein Wort von alldem verstehe, was ich sage." Kissina weiß was sie schreibt. Ihre Julia allerdings träumt sich zum Mond. Erst einmal nur, wenn dort Frühling ist.

 

Frühling auf dem Mond

Julia Kissina, Suhrkamp

Frühling auf dem Mond

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