Der seltsame Fremde

  • München: Luchterhand, 2013, Seiten: 384, Originalsprache
Der seltsame Fremde
Der seltsame Fremde
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Sebastian Riemann
681001

Belletristik-Couch Rezension vonMai 2013

Das Eigene im Fremden.

Wie schön ist doch das Reisen! Der graue Alltag bleibt zurück, Neues entfaltet sich und dringt in sämtliche Sinne, kräftig umspülen neue Eindrücke den alten Geist, der freudig auflebt.

Clemens Lang ist diese Freude verwehrt, er lebt zurückgezogen und glaubt der Welt und ihrem Wesen auf die Schliche zu kommen, indem er immer wieder Fotos von dem Fluss vor seinem Haus macht. Sein Dasein scheint nicht sprudelnder Quell des Lebens, sondern ein kleines, verstecktes, stehendes Gewässer zu sein. Plötzlich aber fällt eine Einladung zu einem internationalen Kongress aus den Wolken auf seinen Schreibtisch und bittet ihn seine fotografische Arbeit vor geladenen Gästen in einem fernen Land vorzustellen. Endlich die Anerkennung, die dem hingebungsvollen Perfektionisten und unermüdlichen Arbeiter zusteht. Lang ist glücklich, verwirrt und macht sich auf den Weg zum Kongress. Christian Haller wählte für seinen neuen Roman einen langweiligen Ausgangspunkt mit sofortiger Flucht, er wirft seinen schläfrigen Protagonisten mittels einer Reise in die turbulente Außenwelt. Gespannt und vergnügt erwartet der Leser den Wechsel in unbekanntes Terrain, möchte sehen wie sich der Mann, der seinen festen Platz am Fenster aufgibt, in der unbekannten Fremde durchschlägt.

Clemens Lang leidet, dank seiner Mutter, die ihm diese und andere Veranlagungen mitgab, an einem nervösen Leiden, welches ihm das Reisen erschwert und zur schwerwiegenden Herausforderung werden lässt. Der Besuch eines anderen Landes wird somit zu einem zentralen Konflikt dieses Einsiedlers, der sich ungern dem Unbekannten allein entgegenstellt. Beruhigt wird Lang jedoch als sich ein seltsamer Fremder in der Wartehalle des Flughafens vorstellt, sich als sein Begleiter zu erkennen gibt und ihm auf wundersame Art die Nervosität raubt.

Christian Haller gehört zu den literarischen Größen der Schweiz und ist über die Landesgrenzen hinaus bekannt, besonders durch seine Trilogie des Erinnerns, die mit dem Schweizer Schillerpreis ausgezeichnet wurde. Seine Figuren sind meist melancholisch, neigen zur Entsagung der Gegenwart und dort reiht sich auch Lang ein, der mittels der Fotografie das Vergangene dokumentieren und festhalten will, während er mitleidig den Verfall der gegenwärtigen Gesellschaft beklagt.

Der seltsame Fremde begleitet den Fotografen und weist ihm immer wieder den Weg, seine Selbstsicherheit und Weltkenntnis kontrastieren mit dem scheuen Protagonisten, der dankbar ist für die Unterstützung in einer Situation, aus der er beständig flüchtet. Clemens Lang ist nicht Kapitän des eigenen Schiffes und kann daher nicht anders als dem Fremden zustimmen, als dieser ihm eröffnet, dass ein ehemaliger Professor das Drehbuch zu seinem Leben geschrieben hat. Fremdbestimmung wird zur Rechtfertigung des eigenen Rückzugs und Scheiterns.

Der Ort des Kongresses bleibt Gegenstand beständigen Rätselns, Haller gibt ihm keinen Namen und scheint ihm jede eigenständige Bedeutung zu nehmen. Es ist lediglich ein beliebiges, fernes, verarmtes Land, welches die Nerven des Fotografen strapaziert und ihm Abfall als interessantes Motiv anbietet. Es ist der Gegensatz zur geordneten, sauberen, langweiligen Welt in Europa, die Lang gewohnt ist und in der er sich sicher fühlt. Elend und Dreck sieht er überall, lässt sich blenden von der Vorstellung eines erhabenen Kolonialismus, der Zivilisation und Kultur in dieses Land brachte. Langs Herabsetzung des fremden Landes, der dort herrschenden Verhältnisse und lebenden Menschen zeigt in unspektakulärer Weise einen Ethnozentrismus, der ohne Weiteres Vorschub für Antipathie und koloniale Überlegenheitsgefühle leisten kann. Erst am Ende des Romans streut der Autor spärlich Reflexionen ein, lässt Lang ein wenig zweifeln, ohne sich jedoch wirklich kritisch mit der eigenen Sichtweise auseinander zu setzen. Es bleibt daher fragwürdig ob Haller den Leser zu eigenen Reaktionen anregen oder doch nur kleinliche Klischees der wohlhabenden Europäer bedienen möchte, wenn er Abfall und Hölle als Bezeichnungen für das fremde Land überdauern lässt.

Auf seiner Reise wendet sich Lang der belebten Welt zu und weicht hierdurch bereits von seinem Habitus ab. Doch stets hält er die Kamera schützend vor seine Person, fotografiert die Menschen in jener anderen Welt, während er den wahren Kontakt mit ihnen scheut, ja mitunter läuft er wie ein Wahnsinniger vor ihnen davon. Er legt ein teilweise asoziales Verhalten an den Tag, seine Sichtweise ist kolonial-arrogant, aber er unternimmt die ersten Schritte in Richtung Erweiterung des eigenen Kulturhorizonts. Weit kommt er nicht, bald kehrt er wieder in die sichere, vertraute Heimat ein. Doch wie sollte der Einsiedler Clemens Lang anders über seine Erfahrungen reflektieren können, wenn nicht in der vertrauten Abgeschiedenheit? Die Reise hat ihn kaum verändert, aber in eine neue Richtung bewegt, endlich muss er nicht mehr über den Fluss vor seinem Fenster grübeln.

Nicht die Ratio, sondern die Psyche öffnet die Pforten zum Verständnis. Die Entwürfe zum Verständnis der Welt, wie sie in verschiedenen Formen in diesem Buch vorkommen, erhielten von Haller einen besonderen Anstrich: sie wirken fehlplaziert, aufgebläht und vor allem unwichtig. Jeder philosophische Tiefgang steht verloren, fällt ohne Bezüge in die Erzählung, wird nicht verstanden, gar überhört, wenig ernst genommen und bleibt als Abfall zurück. Es sind weder die eigenen Überlegungen, noch die kompetenten Beiträge anderer Kongressteilnehmer, die Lang bewegen, sondern seine persönliche Geschichte, die ihn durch das fremde Land treibt und erlebnisreiche Momente heraufbeschwört. Sein merkwürdiges Gebaren, die Scheu vor Anderen, seine koloniale Attitüde, die schicksalsergebene Passivität gegenüber Frauen, sie alle erhalten nach und nach ihre Erklärung aus der emotionalen Biographie des Fotografen. Es sticht heraus die Unfähigkeit der pulsierenden Gegenwart entgegenzutreten, sie manifestiert sich im Gegensatz zum seltsamen Fremden, bleibt aber unbegründet, somit wahrhaft Hallersches Element. Durch den Fremden entlarvt sich Lang selbst und legt den Grundstein für sein Weiterkommen, für die Entfesselung der eigenen Persönlichkeit, die am Ende des Buches mit sehr dünnen Strichen gezeichnet wird.

Der Fremde zeigt die tief vergrabenen Konflikte in Lang und ist selbst Produkt derselben. Der Fotograf will nicht den Wandel bestimmen, er will nur beobachten, sich selbst aus der Gleichung entfernen. Mit voranschreitender Selbsterkenntnis wird ihm dies jedoch immer schwieriger, er bricht unter der Last zusammen, kann seinen Vortrag nicht halten, sondern liegt kraftlos nieder. In mehrerer Hinsicht scheitert Lang beim Kongress und kehrt trotzdem bereichert in die Heimat zurück, obwohl er seine Bilder samt dazugehörigen Erläuterungen und Gesellschaftskommentar nicht präsentieren konnte.

Hallers neuer Roman ist ein bereichernder Einblick in das dynamische Innenleben einer stoischen Person, die unbeweglich wirkt; ärgerlich bleibt aber der viktorianische Geschmack des Reisenden, dessen Magen die fremdartige Kost nicht verträgt. Die seltsame Fremde bleibt somit ihrem Namen treu.

Der seltsame Fremde

Christian Haller, Luchterhand

Der seltsame Fremde

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