Das Lächeln meiner Mutter

  • München: Droemer Knaur, 2013, Titel: 'Das Lächeln meiner Mutter', Seiten: 384, Übersetzt: Doris Heinemann
  • Paris: J.-C. Lattès, impr., 2011, Titel: 'Rien ne s'oppose à la nuit', Seiten: 436, Originalsprache
Das Lächeln meiner Mutter
Das Lächeln meiner Mutter
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Rita Dell'Agnese
801001

Belletristik-Couch Rezension vonMär 2013

Versuchen, zu verstehen

Ein Buch über die Mutter: Delphine De Vigan schreibt gleich zu Beginn ihres Romans "Das Lächeln meiner Mutter", wie absurd ihr dieses Unterfangen noch vor nicht allzu langer Zeit vorgekommen wäre. Nein, über die Mutter schreibt man nicht – zu stark ist die emotionale Bindung, um die Distanz zu entwickeln, die es braucht, damit das Werk nicht als allzu intime Zwiesprache ungehört und ungelesen verhallt. Zum Glück für die Leser hat Delphine De Vigan ihren Grundsatz beiseitegeschoben und macht sich daran, dem Leben ihrer Mutter Lucile nachzuspüren. Sie stößt dabei auf die facettenreiche Persönlichkeit ihrer Großmutter, die ihre Großfamilie mittels einer fatalistischen Lebenseinstellung durch die Tiefen und Untiefen der gesellschaftlichen Zwänge und des wirtschaftlichen Umfelds der 50er und 60er Jahre zu schleusen vermag. Als  eines der älteren Kinder wird Lucile stark mit den persönlichen Abgründen der Mutter konfrontiert und muss schon früh versuchen, ihre Persönlichkeit trotz starkem familiären Korsett herauszubilden.

Der Umstand, dass der Fokus der Geschichte immer mal wieder von der Mutter Lucile zur Großmutter Liane wandert, könnte Delphine de Vigan geholfen haben, die Geschichte zu entwerfen, die so hinreißend, wie auch auf eine erstaunliche Art berührend ist. Berührend hier nicht im Sinne von rührend – denn das ist "Das Lächeln meiner Mutter" keineswegs. Das Bemühen der jungen Lucile, ihr Leben in die Hand zu nehmen und ihm insbesondere eine andere Richtung zu geben, wie sie Liane eingeschlagen hat, wird in vielen eine Assoziation mit eigenen Leben auslösen. Insbesondere die Frage "Kann man sich der Weichenstellung im Elternhaus tatsächlich entziehen?" dürfte Einiges in den Köpfen der Leser bewegen. Hatte Lucile tatsächlich eine echte Chance, sich vom dem, was ihr vorgelebt wurde, zu lösen und ihren eigenen Weg zu gehen? Und weshalb hat sich Lucile später ihrer eigenen Tochter entzogen, blieb stets die schöne und unkonventionelle aber auch unnahbare Frau? Diese Fragen stehen auch im Zusammenhang mit dem Entre des Buches: Delphine De Vigan muss sich der Tatsache stellen, dass ihre Mutter sich das Leben genommen hat.

Zwiespältige Gefühle löst der Aufbau der Geschichte aus. Immer wieder bringt die Autorin ihre eigenen Zwänge ein. Sie hangelt sich von Schreibblockade zur Ratlosigkeit und weiter zu einer Phase emsigen Schaffens. Je mehr sie sich mit der familiären Vergangenheit beschäftigt, desto intensiver werden die auftauchenden Bilder. Gleichzeitig aber scheint die Erkenntnis des Geschehens vor ihrer Geburt sich auf die Bereitschaft der Autorin auszuwirken, der ganzen Bandbreite der Geschichte genügend Raum zu geben. Sie zügelt ihre "Figuren" merklich, zögert und gibt dann doch preis, was sie zunächst nicht präsentieren wollte.  Daraus nun zu schließen, die französische Autorin habe ein quasi unfertiges Werk vorgelegt, hieße, den Grundsatz der Geschichte nicht erkannt zu haben.

"Das Lächeln meiner Mutter" ist ein überzeugender Beweis dafür, dass die eigene Geschichte von ihrer Intensität her einer reinen Fiktion überlegen sein kann – ja, muss – wenn sie gut umgesetzt ist. Delphin De Vigan setzt ihre Geschichte gut um. Sie besticht sowohl durch das Konzept als auch durch die Nähe, die die Autorin herzustellen vermag. Sensibel geht De Vigan an das Thema heran, wächst daran und schließt das Buch persönlich gereift – und wohl auch ein Stück weit versöhnt mir ihrer Vergangenheit. In ihrer Heimat Frankreich schaffte Delphine De Vigan mit " Das Lächeln meiner Mutter" die Nomination für alle bedeutenden Literaturpreise. Es ist eine Anerkennung für eine über sich selber hinaus gewachsene Geschichte.

Luciles Selbstmord ist zwar die Grundlage des Romans, nicht aber ein beherrschendes Element. Wer also hinter dieser Tatsache eine düstere Geschichte mit großen psychischen Auswüchsen sucht, wird eines besseren belehrt. Delphine De Vigan hat einen lebensbejahenden Roman vorgelegt, der ebenso viele Fragen aufwirft, wie er erklärt – aber sie kein voyeuristisches Buch über die Verzweiflung ihrer Mutter geschrieben. Dieser behutsame Umgang mit der Geschichte hat zu einem wunderbaren Leseerlebnis geführt.

Das Lächeln meiner Mutter

Delphine de Vigan, Droemer Knaur

Das Lächeln meiner Mutter

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