Wunder

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Birgit Stöckel
961001

Belletristik-Couch Rezension vonMär 2013

Ein unglaublich berührendes und bezauberndes Buch

August Pullman, genannt Auggie, soll im Sommer in die fünfte Klasse auf eine neue Schule gehen. Nichts Ungewöhnliches sollte man meinen, immerhin geht es jedes (Schul-)Jahr tausenden von Kindern in den USA (und nicht nur dort) so. Doch bei Auggie liegt die Sache anders, denn bisher war er noch nie auf einer Schule. Dank eines genetischen Fehlers ist sein Gesicht von Geburt an entstellt. Auch nach 27 Operationen ruft sein Anblick bei den meisten Leuten immer noch Abscheu, Entsetzen und Ekel hervor. Wie Auggie selber sagt: "Ich werde nicht beschreiben, wie ich aussehe. Was immer ihr euch vorstellt – es ist schlimmer."

In Raquel J. Palacios Debütroman "Wunder" begleitet der Leser einen ungewöhnlichen, mutigen und tapferen Jungen, der kein normaler Junge ist, obwohl er ganz normale Dinge macht. Von klein auf hat er Krankenhäuser kennengelernt und viele schmerzhafte Prozeduren über sich ergehen lassen müssen. Allein das Essen fällt ihm schon schwer. Mehr noch als die körperlichen Probleme schmerzen die seelischen Verletzungen, die er immer wieder durch die Reaktionen seiner Umwelt erfährt. Doch trotzdem gibt Auggie nicht auf, sondern macht weiter und stellt sich auch dem Abenteuer Schule.

Die Geschichte wird aus der Sicht verschiedener Personen erzählt. Zum einen ist da Auggie selber, der uns von seiner Kindheit berichtet, von seinen Gedanken und Gefühlen, der gelernt hat, mit den Reaktionen seiner Umwelt umzugehen, aber trotzdem immer wieder an seine Grenzen stößt. Der uns mit seinem Mut, seinen Träumen, seinem Humor immer wieder überrascht und berührt. Ungeachtet seiner Aussage, er würde sein Äußeres nicht beschreiben, erfährt man als Leser doch nach und nach wie sein Gesicht ungefähr aussieht und man ist unwillkürlich erschrocken und von Mitleid erfüllt. Doch je weiter die Geschichte fortschreitet, desto mehr wird das Äußere unwichtig, man denkt beim Lesen kaum mehr daran, sondern sieht Auggie so, wie er wirklich, wie er als Mensch ist.

Neben August kommt auch seine Schwester Olivia, von der Familie Via genannt, zu Wort. Man merkt ihr an, wie sehr sie ihren Bruder liebt und bewundert sie dafür, wie gut sie sich damit arrangiert hat, immer hinter Auggie zurück stehen zu müssen. Doch gelingt es Palacio sehr einfühlsam auch ihre Schwierigkeiten mit der Situation zu schildern. Via ist fünfzehn und ebenfalls auf einer neuen Schule und hat ihre eigenen Probleme: Die erste Liebe, Freundschaften, die zerbrechen… In dieser nicht ganz einfachen Zeit wäre die Hilfe und Unterstützung der Eltern wichtig, doch deren Aufmerksamkeit wird immer wieder von Auggie beansprucht. Auch wenn sie sich Mühe geben, ebenfalls für ihre Tochter da zu sein, so muss Via doch immer wieder zurückstecken, was sie verständlicherweise verletzt und manchmal überfordert.

Ebenso kommen Schulkameraden von Auggie zu Wort, die erzählen, wie sie Auggie sehen und warum sie sich mit ihm anfreunden. Dabei wird deutlich, wie grausam Kinder sein können, egal ob absichtlich oder unabsichtlich, wie schwierig es ist, sich gegen die tonangebenden Schüler zu stellen und nicht mit dem Strom zu schwimmen. Hier wird auch deutlich, wie sehr Kinder durch das Verhalten, dass sie von ihren Eltern vorgelebt bekommen, geprägt werden, sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht.

Dadurch, dass Palacio verschiedene Personen zu Wort kommen lässt, entsteht ein umfassendes Bild von Auggie und seiner Situation, es wird deutlich, dass es oft nicht nur schwarz und weiß gibt und man kann auch einige Verhaltensweisen nachvollziehen, die einem bei einer Erzählweise aus nur einer Perspektive unverständlich geblieben wären. 

"Wunder" ist ein leidenschaftliches und engagiertes Plädoyer für Toleranz und die Überwindung von Vorurteilen. Es führt einem beim Lesen auch vor Augen, dass jeder von uns sicherlich schon in Situationen war, in denen wir gedankenlos gehandelt haben und damit vielleicht jemanden verletzt haben, der anders ist als der Durchschnitt. Das Buch ermutigt uns, uns nicht vom äußeren Schein blenden zu lassen, sondern hinter die Fassade zu schauen, sich auf Menschen einzulassen, weil sie so sind wie sie sind und nicht, weil sie aussehen, wie sie aussehen. Es macht auch Hoffnung, dass es möglich ist, Intoleranz und Ablehnung zu überwinden, dass ein paar Idioten nicht ausreichen, jemanden zu zerstören. Dass Freundschaft und Wertschätzung stärker sind als Ablehnung und Vorurteile. 

Das vom Verlag empfohlene Alter liegt zwischen zehn und zwölf Jahren, doch es müsste heißen von zehn bis neunundneunzig Jahren, denn dieses Buch kann wirklich jedem empfohlen werden, man wird sich dieser Geschichte kaum entziehen können und am Ende der Lektüre wird man Auggies Schulleiter zustimmen, der sagt, dass Auggies "stille Stärke die meisten Herzen bewegt hat".

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