Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt

  • Rowolth
  • Erschienen: Januar 2012
  • 1
  • Hamburg: Rowolth, 2012, Titel: 'Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt', Seiten: 368, Originalsprache
Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt
Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt
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Kora Kutschbach
751001

Belletristik-Couch Rezension vonOkt 2012

Der Blick in ein etwas anderes Geschichtsbuch

Als Kind West-Berlins erlebte Ulrike Sterblich zu Zeiten des geteilten Deutschlands eine besondere Kindheit und Jugendzeit. Viele Erinnerungen hat sie an diese turbulenten Jahre, in denen sie in einer historisch prägenden, einmaligen gesellschaftlichen und politischen Situation aufwuchs. Und ebenjene Erinnerungen teilt die Autorin in Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt – Eine Kindheit in Berlin (West). Dabei gewährt sie Einblicke in ihre Gedanken und eröffnet Anekdoten, die rückblickend manches Mal wie ein Paradiesvogel aus dem herrschenden Regime herausleuchten. Denn auch wenn die politische Lage schwer zu ertragen war, so lieferte ein Alltagsleben, in dem allein das S-Bahn-Fahren ein Erlebnis war, genügend Grund zum Aufleben.

Ulrike Sterblich ist eine Schriftstellerin, Rundfunkmoderatorin und Politologin, deren Arbeit oftmals auch die Bereiche der Sprachwissenschaft und Ethik tangiert. Sie schreibt Artikel, Kolumnen und Kurzhörspiele ebenso wie Belletristik, wobei sie nicht selten Beobachtungen und Erfahrungen mit einer spitzen Klischeehaftigkeit und Satire verziert. Sterblichs Vorliebe für auffallende Texte, die aus der Masse herausstechen, spiegelt sich dementsprechend gleichfalls in ihrem neusten Buch wider.

Auch nachdem die deutsche Wiedervereinigung nun bald ein viertel Jahrhundert zurückliegt, bietet die Zeit des geteilten Staates noch immer reichhaltige Erinnerungen und Anekdoten, die es wert sind, sie miteinander zu teilen. Persönliche Geschichten schillern dabei in den unterschiedlichsten Nuancen und die Erzählungen der Autorin gehören mit Sicherheit zu dieser Sammlung. Wenn es so etwas wie eine literarische Zeitkapsel gäbe, würden Sterblichs Ausführungen die Historie flugs zum Leben erwecken.

Ulrike Sterblich verpackt und transportiert mit ihrem Buch Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt stellvertretend das Lebensgefühl einer ganzen Generation. Diejenigen, die das West-Berlin vor der deutschen Wiedervereinigung miterlebt haben, werden sich und eine Woge der Nostalgie in den lebhaft geschilderten Erzählungen wiederfinden. Diejenigen, die noch zu jung für derartige Erinnerungen sind, können sich auf eine unterhaltsame Zeitreise gefasst machen. Es sei dennoch erwähnt, dass die Schilderungen nicht immer nur wahren Begebenheiten entsprechen, sondern mittels blühender Fantasie ergänzt wurden.

Die Autorin schildert die Erlebnisse ihrer Kindheit und Jugend mit der gewissen Portion Humor und Leichtigkeit, was die schwierige gesellschaftliche Lage keinesfalls verharmlost, sondern schlicht von einer anderen Seite aus zeigt.

Dieser Erfahrungsbericht ist gespickt von zahlreichen Details zur Stadt Berlin, ihren Bezirken und individuellen Eigenheiten – von Sterblich als "Sonderlichkeiten" bezeichnet –, sodass mit diesem Werk gleichzeitig eine Stadtführung der etwas anderen Art publiziert worden ist. Diese Intention macht sich bereits an den Betitelungen der einzelnen Kapitel, die jeweils mit einem Kartenausschnitt des Stadtplans unterlegt sind, bemerkbar. Stehen für die Kapitelüberschriften beispielsweise The Wall, das Ku'damm-Eck und das Brandenburger Tor Pate.

Ulrike Sterblich beschreibt, wie sie ihre erste Liebe fand, wie sie als Austauschschülerin in die USA ging, die ersten Begegnungen mit zugezogenen Westdeutschen und wie sie selbst den Fall der Mauer erlebte. Letzteres kommentierte sie mit "Ich brauchte überhaupt kein neues Berlin, mein altes Berlin funktionierte noch sehr gut." Darin spiegelt sich zum einen die ganz persönliche Meinung eines Jugendlichen wider, zum anderen betont diese Aussage die Liebe zu einer Heimatstadt, in der Sterblich ohne Bedauern aufgewachsen ist.

Darüber hinaus reichert die Autorin ihre eigene Geschichte am Ende jedes Kapitels durch interessante, kuriose oder illustre Informationen und Fakten aus dem Berliner Leben an. Dabei trifft der Leser auf Informationen wie "Das kleine Ladenkino Xenon in Schöneberg besteht seit 1908" und "jottwede = j.w.d. = janz weit draußen".

Ein weiteres Charakteristikum, das herausgestellt wird und der Geschichte den passenden Charme verleiht, ist die landesweit bekannte Berliner Schnauze à la "Kiekt ma da draußen, solln wa die Kleene nich noch mitnhem mit ihrer Püppi?", die so redet, wie ihr der Mund gewachsen ist. 

Es gelingt Ulrike Sterblich mit diesem Buch ein Stück Berliner Vergangenheit in sämtlichen Facetten zum Leben zu erwecken, wobei ein Ortsunkundiger sich anfangs schon überwältigt fühlen kann. Doch die ehrliche, offene und gelegentlich herrlich überzogene Art und Weise, mit der die Autorin ihre Stadt beschreibt, entspricht der herzlichen Einladung, in ein Berlin, das es so nicht mehr gibt, einzutauchen.

Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt

Ulrike Sterblich, Rowolth

Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt

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