Der Eiskrem-Krieg

  • : bloomsbury taschenbuch, 2012, Titel: 'Der Eiskrem-Krieg', Seiten: 480, Übersetzt: Hermann Stiehl
Der Eiskrem-Krieg
Der Eiskrem-Krieg
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Michaela Hövermann
831001

Belletristik-Couch Rezension vonOkt 2012

Die Macht der Bienen

Als der Erste Weltkrieg ausbricht, werden in Ostafrika Deutsche und Engländer von Freunden zu Feinden. Die Briten sehen sich schon als Gewinner, denn "es ist viel zu heiß für ausgedehnte Kampfhandlungen […] Wir werden alle schmelzen wie Eis in der Sonne!" Eine beispiellose Fehleinschätzung.   

Bitterböse, satirisch überspitzt und gleichzeitig ungemein realistisch liefert William Boyd mit seinem "Eiskrem-Krieg" einen Anti-Kriegs-Roman ab, der zwar nicht mit neuen Botschaften aufwartet, dafür aber durch pointierte Gesellschaftskritik und eine ungewöhnliche Herangehensweise an die Thematik besticht.

Tagebuchartig werden die Ereignisse zwischen dem 6. Juni 1914 und dem 3. Januar 1919 beleuchtet, wobei jedes Mal ein anderer Charakter im Fokus steht:

Der amerikanische Farmer Temple Smith betreibt eine Sisalfarm in Britisch-Ostafrika. Gleich nebenan ist sein deutscher Nachbar Erich von Bishop damit befasst, das Land in Deutsch-Ostafrika auszubeuten. Nach Ausbruch des Krieges zögert von Bishop nicht lange: Mit einem Invasionstrupp fällt er auf Temples Farm ein und jagt ihn davon. Der Amerikaner schließt sich daraufhin der britischen Armee an. Die Truppe ist zwar bunt gemischt; die Offiziere allerdings allesamt steife, arrogante Briten ohne Bewusstsein für ihren nahen Untergang.

Neben dem britischen Patriarchen Major Cobb rücken mit dessen Söhnen zwei eher untypische Mitglieder der Cobb-Familie in den Fokus der Handlung: der überaus pflichtbewusste Gabriel Cobb, der sich sofort nach Ost-Afrika begibt, und sein jüngerer Bruder Felix. Letzterer wurde wegen eines Augenproblems für "untauglich" erklärt und gilt innerfamiliär als "subversiver Drückeberger". Er träumt auch nicht vom heroischen Einsatz an der Front, sondern von der Bohème und einem Studium in Oxford. Das allerdings entpuppt sich schnell als Flopp: Die Universität interessiert ihn nicht; den akademischen Anforderungen ist er nicht gewachsen; ihm erscheint alles "langweilig und leblos".

Ereignisreich gestalten sich Gabriels Tage zunächst auch nicht: "Wir lagen sechzehn Tage lang im Hafen, bis der Konvoi abfuhr". Bis dahin? Langweile. Nach seinem Eintreffen wird er in der Schlacht von Tanga verletzt ("Bajonettwunden im Unterleib") und landet im Gefangenenlazarett der Deutschen. Dort begegnet er von Bishops Frau Liesl, die als Krankenschwester Dienst verrichtet. Er beschließt, sich als Spion nützlich zu machen und nutzt nebenbei die Möglichkeit, Liesl beim Baden zu beobachten…

Der an der Front verwundete Bruder stellt Felix vor neue Probleme. Neben Unifrust, Schuldenlast und Misserfolg bei Frauen, versprechen nun auch noch die Osterferien zu Hause überaus unangenehm zu werden. Dazu kommt eine hässliche Entzündung an seiner  Oberlippe, die einfach nicht abheilen will. Da vermag auch das Angebot der anderen Studenten, das Semesterende mit einer schönen Rattenjagt zu beenden ("Wollen Sie auch mal draufschlagen?"), nicht aufzumuntern.

Den dringend benötigen Schub für sein Selbstwertgefühl gibt ihm die Beziehung mit Charis, die auf Nachricht von Gabriel wartet. Aber dessen Botschaften glänzen vor allem durch Einfallslosigkeit und Leere: Anrede, eine Zeile, Abbruch mitten im Satz. Das ist alles. Felix versucht die Schwägerin zu trösten. Sein Bruder sei eben kein großer Briefeschreiber, das müsse sie doch verstehen. Nach der verbalen Zuwendung folgt die körperliche: Sie beginnen eine Affäre. Allerdings stürzt die Mischung aus Scham und Schuld Charis zunehmend in Gewissenskonflikte. Und sie trifft eine folgenschwere Entscheidung. Felix, getrieben von der Befürchtung, sein Bruder könne davon wissen, lässt seine Beziehungen spielen und folgt ihm nach Ostafrika…

Krieg – so der Tenor in William Boyds "Der Eiskrem-Krieg" - ist blutig, unberechenbar und langweilig. Quälend langsam und ereignisarm verstreichen die Tage. Die Ereignisse reichen kaum für belanglose Briefe in die Heimat. Irgendwann wird gekämpft und gestorben. Letzteres allerdings nicht unbedingt infolge gezielter Kriegshandlungen. Kommt es tatsächlich dazu, spiegelt Boyd ihre Sinnleere und Willkür. Mit der tatsächlichen Härte der Kriegsrealität kontrastiert er absurde Zufällen wie etwa den  - historisch belegten - Zwischenfall mit einem aggressiven Bienenschwarm bei der Schlacht von Tanga. Parallel dazu zieht auch die Tsetsefliege in den Krieg und richtet unter den Soldaten ein Massaker an;  selbst ein Grippevirus kommt schließlich dem gezückten Revolver zuvor.

Die grotesken Aspekte und der ironische Ton des Romans schaffen Distanz und heben zugleich die wirklichkeitsnahen Facetten des Krieges umso deutlicher hervor: Leid, Verletzungen und Verstümmelungen, Tod, Entfremdung von den Zurückgelassenen in der Heimat.

Und emotionale Verkümmerung.  Sichtbar etwa, als der von seiner Farm vertriebene Temple Smith diese später besucht und das Grab seiner kleinen Tochter geschändet findet. Sarg und menschliche Überreste liegen verstreut, als hätte dort "ein größeres Tier gewütet".  Emotionslos registriert er den "winzigen Schädel von der Größe eines Apfels", die "Rippen so dünn wie Krallen, Rückgratstückchen so groß wie Backenzähne". Für ihn nichts als "Knochen". Außerdem gäbe es ja schon ein neues Kind. Die Entdeckung allerdings, dass die Deutschen seine wertvollen Maschinen entwendet haben, bringt ihn in Rage: Er brüllt, er flucht, er ist völlig außer sich.

Zudem versagen die kriegsfreudigen Männer in alltäglichen Zusammenhängen. Als Gabriel sich im Schlafzimmer in der Hochzeitsnacht etwa das Knie an einem "Schränkchen" stößt, verwandelt er sich in einen weinerlichen kleinen Jungen. Charis tröstet mütterlich. Beim anschließenden Geschlechtsverkehr kommt er zu früh, sie überhaupt nicht.  So hatten sie sich das wohl beide nicht vorgestellt. Seine späteren Erinnerungen an ihre intimen Momente sind von Scham geprägt.

Schreiben, seine Gedanken in Worte fassen oder gar Gefühle mitteilen, kann er auch nicht. So scheint die Affäre zwischen Charis und Felix vom ersten Moment an unausweichlich, ebenso wie ihr Ausgang. Denn sie fühlt ihn, diesen nicht zum Schweigen zu bringenden Ekel vor sich selbst, der den Männern so vollkommen fehlt.

William Boyd, der 1952 als Sohn schottischer Eltern in Ghana zur Welt kam und zwischen den Welten aufwuchs, schildert die Sinnlosigkeit des Krieges und den Untergang des britischen Weltreiches gleichermaßen. Seine Erzählung zwingt dazu, immer wieder unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Boyd erfüllt die Erwartungen der Lesenden nicht; er spielt damit. Er zwingt zu Wachsamkeit, zu Kritik, zur Auseinandersetzung.  

Die Scherze der Männer sind derb, ihre Leiblichkeit und Sexualität zuweilen abstoßend. Die beschworenen Bilder und die Wortwahl sind nichts für zarte Gemüter und Schöngeister. Das wollen sie aber auch gar nicht sein.

In einer sich auflösenden Welt ohne Schuldige und Verantwortliche "kommt [uns]  nur noch die Komödie bei", schrieb der Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt. Aber "wir können das Tragische aus der Komödie […] erzielen". Der Weg dazu ist das Groteske. 

Damit ist dieser Roman vielleicht am besten zusammengefasst.

Der Eiskrem-Krieg

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