Familienalbum

  • : C. Bertelsmann, 2012, Titel: 'Familienalbum', Seiten: 288, Übersetzt: Maria Andreas
Familienalbum
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Rosie Sabel
781001

Belletristik-Couch Rezension vonOkt 2012

Liegt nicht in jeder Familie irgendwo der Hund begraben

"Die Welt besteht aus Familien, jeder ist einer zugeordnet und damit gekennzeichnet." In ihrem Roman "Familienalbum" erzählt die 2012 von der Queen geadelte Penelope Lively vom Familienleben der Harpers in den Siebziger Jahren. Sie leben in Allersmead, einem großen, spätviktorianischen Haus. Für Alison, anachronistische "Erdmutter" in wallenden Gewändern, geht "nichts über ein richtiges, altmodisches Familienleben" und so gebiert sie, was das Zeug hält. Es gibt sechs Kinder: Paul, den Ältesten, Sandra, die Hübsche, Roger, den Gescheiten, Katie, die Hilfsbereite, Gina, die Schwierige und Clare, die Sportliche. Vater Charles, ein Schriftsteller, beteiligt sich außer der Zeugung der Kinder nicht nennenswert am Familienleben, er zieht sich in sein Arbeitszimmer zurück und möchte nicht gestört werden. Und dann gibt es auch noch Ingrid, das schwedische Au pair. 

Eine große Kinderschar in einem schönen Haus mit riesigem Garten, das klingt erst einmal nach Familienidyll. Doch schon bald wird beim Weiterblättern im "Familienalbum" klar, es brodelt unter der glatten Oberfläche. Irgendetwas muss schiefgelaufen sein. Wieso hat kein einziges der sechs Kinder, obwohl alle längst in den Dreißigern, Nachwuchs? Wieso lassen sie sich nur höchst selten zuhause blicken? Und warum sieht die Jüngste, Clare, so völlig anders, um nicht zu sagen, so skandinavisch aus?

Wie in einem Fotoalbum fügen sich in "Familienalbum" einzelne Erlebnisse, festgehalten durch die Erinnerung der jeweiligen Familienmitglieder, nach und nach zu einem großen Ganzen zusammen. Äußerst ungewöhnlich: es gibt keine wirkliche Hauptperson, das gesamte Romanpersonal tritt gleichberechtigt auf. Jeder bekommt sein eigenes Kapitel, in dem er die Dinge aus seiner individuellen Sicht schildert. Erzählerisch geschickt beschreibt Lively die Familienmitglieder in der dritten Person und lässt sie zusätzlich als Ich-Erzähler zu Wort kommen. Diese unterschiedlichen Erzählperspektiven machen die Charaktere erlebbar, ihre Entfremdung sichtbar. "Sie nehmen diese persönliche Last aus Allersmead mit, wohin sie auch gehen. Sie können sie nicht abwerfen."

Rechtfertigt das eigene Glück lebenslanges Verdrängen und Verleugnen? Als Alison erfährt, dass ihr Ehemann mit dem Au pair ein Kind gezeugt hat und ihre heile Welt zu zerbrechen scheint, reagiert sie unerwartet. Ingrids Schwangerschaft wird vertuscht, und nachdem das Baby geboren ist, wird es als Alisons sechstes Kind deklariert. Über den Vorfall wird nicht gesprochen, selbst Clare erfährt niemals offiziell, wer ihre leibliche Mutter ist. "Die Kinder haben es nie erfahren. Da bin ich ganz sicher. Manchmal vergesse ich es selber fast." Doch Alison irrt. Sie lebt in ihrer eigenen Realität und begreift nicht, dass alle Kinder von dem Familiengeheimnis wissen und jedes auf seine Weise mit diesem Tabu und der generellen Sprachlosigkeit in dieser Familie hadert.

Die inzwischen fast achtzigjährige Penelope Lively, die 1977 ihren ersten Roman veröffentlichte und auf ein großes schriftstellerisches Werk zurückblicken kann, ist bekannt für ihre zentralen Romanthemen Familie und Gesellschaft im Wandel der Zeit. Für ihren Roman Moon Tiger, ebenfalls aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt, erhielt sie 1987 den begehrten Booker Prize, die wichtigste literarische Auszeichnung Großbritanniens.

"Familienalbum" inspiriert in Livelys gewohnt unsentimentaler, dennoch schöner Sprache förmlich dazu, Vergleiche mit der eigenen Familie anzustellen. Sich zu fragen, welche prägenden Erfahrungen und Verletzungen wir aus unserer Herkunftsfamilie in unser späteres Leben mitnehmen. Denn liegt nicht in jeder Familie irgendwo der Hund begraben? Allerdings hätte ich mir etwas mehr Dynamik in der Handlung, etwas mehr Zündstoff gewünscht; phasenweise plätschert die Erzählung regelrecht vor sich hin. Sogar die von allen erwähnten "Kellerspiele" entpuppen sich am Ende als völlig harmlos. Da die Geschichte achronologisch erzählt und schnell klar wird, dass Clare ein Kuckuckskind ist, fehlt schlichtweg der Höhepunkt, auf den man hinfiebern kann. Auch bleibt Alison letztendlich zu unkonturiert, um nachvollziehbar als treibende Kraft hinter diesem Familienbetrug wahrgenommen zu werden.

Nichtsdestotrotz ist "Familienalbum" ein schöner, unaufgeregter Roman, der zum Nachdenken über unsere eigene Herkunft anregt und, da jeder von uns einer Familie entspringt, garantiert noch eine Weile in uns nachhallt.

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