Sound

  • Berlin: Berlin Verlag, 2012, Titel: 'Sound', Seiten: 357, Übersetzt: Clara Drechsler und Harald Hellmann
Sound
Sound
Wertung wird geladen
Lutz Vogelsang
651001

Belletristik-Couch Rezension vonOkt 2012

Ein Buch wie ein Springsteen-Song

"Als die Uni mein Promotionsstipendium strich, fiel mir nichts Besseres ein: Ich ging zurück nach New Jersey..." Cincy hat zwar sein Philosophiestudium bisher ordentlich gemeistert, doch je näher er dem Abschluss kommt, desto mehr wachsen seine Zweifel. Bereits zum zweiten Mal muss er seine Abschlussarbeit wegen einer Schreibblockade aufschieben. Um dem drückenden Universitätsumfeld zu entkommen, beschließt er an die Jersey Shore zu fahren. In das kleine Küstenstädtchen, in dem er aufwuchs. Der Besitzer einer Werft, in der er in seiner Jugend schon gelegentlich ausgeholfen hat, hat ihm einen Job für den Sommer zugesagt.

"Da sah ich sie zum ersten Mal, ganz am Ende der Haltestelle wartete sie im Lichtschein."

T.M.Wolf hält sich nicht lange mit Nebensächlichkeiten auf. Knappe fünf Seiten braucht er, um den Leser auf den aktuellen Stand zu bringen. Cincy kommt in seiner Heimatstadt an und trifft sie. Von hier bis zur letzten Seite spannt sich die wohl frustrierendste Liebelei – hier kann man nicht mal von einer Liebesgeschichte reden! - die man sich vorstellen kann. Vera, eine Sozialarbeiterin und lokale Szeneberühmtheit, taucht auf und wieder ab. Einer zusammen verbrachten romantischen Nacht folgt Ernüchterung. Kurz darauf die gleiche Geschichte noch einmal. Vera, die zwischendurch für Wochen schlichtweg verschwindet, lässt den armen Protagonisten am langen Arm verhungern.

Umso besser, dass der sich mit seinem Job in der Werft ablenken kann. Doch auch dort läuft es nicht so, wie er sich das vorgestellt hat. Zuerst wird auf dem Gelände eingebrochen, später beginnt ein obskurer Zeitgenossen die Werft zu observieren. Als Cincy eines Tages auf offener Straße von einem vermeintlichen Zivilpolizisten angegriffen wird, ist die Verwirrung komplett. Mit seinem Jugendfreund und Mitbewohner Tom streunt er abends über die heruntergekommenden Promenaden der Küstenstadt, nur um immer wieder Vera über den Weg zu laufen. Besagter Mitbewohner sorgt nebenbei für einige Highlights der Geschichte. Der Versuch, mit seiner Coverband das Plagiieren so zu perfektionieren, dass er unbemerkt eine ganze Kneipen-Jukebox durch eigene Versionen ersetzen kann, soll gleichermaßen zu Triumph und Fiasko führen. 

Man merkt T.M.Wolf deutlich an, dass er bis zu diesem Debütroman als Musikredakteur gearbeitet hat. Das Buch ist wie eine LP aufgebaut, in A- und B-Seite unterteilt. Die einzelnen Kapitel sind nach Hip Hop-Songs oder Beach Boys-Platten benannt. Man merkt auch deutlich, wie mutig Wolf versucht hat, mit Sound Grenzen zu überschreiten. Er hat eine einzigartige (im eigentlichen Wortsinn!) Schreibweise entwickelt, die die verschieden Stimmen – äußere wie innere – miteinander verwebt. Sind die Beschreibungen noch in "klassischer" Prosa gehalten, so greift er bei jedweder Art von Dialog oder Gedanken auf ein Konzept zurück, das man in der Literatur noch nicht kannte: die Partitur!

So wie man bei einem Musikstück verschiedene Tonspuren zu einem einzigen Lied übereinanderlegt, so macht es Wolf mit den Stimmen in seinem Buch. Wie auf einem Notenblatt hat jeder Sprecher seine Linie, seine Schriftart und -größe. Das gilt genauso für Stimmen aus dem Radio, Gedanken oder Erinnerungen. Bei einem Dialog, der vielleicht noch von einer Radioübertragung "unterlegt" ist, funktioniert das wunderbar und ist ein ganz besonderes Leseerlebnis; Leider wird es, je mehr Stimmen mitmischen, zeitweise wirklich unübersichtlich und richtiggehend anstrengend. Bei fünf oder mehr Tonspuren muss man fast jede Passage mehrmals lesen, um die verschiedenen Stimmen zu entwirren. Ob das im Sinne des Erfinders ist, darf bezweifelt werden.

Dennoch bietet sich dem Leser durch die Überlagerung der einzelnen Tonspuren eine wirklich außergewöhnliche Leseerfahrung. Man muss dem Autoren hier beachtliche Kreativität zugestehen. Es ist demnach auch wenig verwunderlich, dass Wolf im Feuilleton mit Douglas Coupland oder Mark Z. Danielewski verglichen wird. Besonders letzterer hat mit House of Leaves und speziell mit Only Revolutions mit ganz ähnlichen Mitteln versucht, das klassische Romanschema aufzubrechen und mit ganz neuen Elementen zu bereichern. Man kann das Experiment Sound, den innovativen Schreibstil mit seinen synästhetischen Stilmitteln, also durchaus als gelungen bezeichnen.

Anders sieht es mit der Geschichte an sich aus. Die Charaktere – Cincy und Tom mit Absrtrichen einmal abgesehen – verblassen ebenso wie der einstige Glanz der Küstenstadt, in der sie sich bewegen. Zudem wirken die einzelnen Handlungsstränge nicht auserzählt. Cincys Liebe zum Surfen, die durch einen schweren Unfall ein jähes Ende fand, die Probleme mit seiner Familie, die nur für einige Seite im Buch auftaucht, und nicht zuletzt die verworrene Kriminalgeschichte: Hier wird vieles angedeutet und wenig ausgearbeitet. Das kann für manchen Leser durchaus reizvoll sein, unterstreicht es doch den authentischen Charakter des Buches, das so auch eine wahre Geschichte erzählen könnte. Manchen Leser wird es ebenso frustrieren wie das Hin und Her zwischen Cincy und Vera. 

"Wenn du authentisch sein willst, dann aber richtig. Wie ich schon in der Highschool sagte:"Hau rein, oder geh heim" […] aber für mich? Gibt ´s kein Nachhausegehen."

Trotz der unausgegorenen Story kann das Buch phasenweise überzeugen - und das nicht nur durch sein ganz besonderes Design mit den verschiedenen Tonspuren. Mit seiner lässigen, ungezwungenen Sprache gelingt es Wolf, die Atmosphäre der einst florierenden Küstenregion authentisch einzufangen. Das Buch wirkt stellenweise wirklich wie ein Song von Bruce Springsteen, der bekanntlich so etwas wie Jerseys Wappenvogel ist und auch in Sound öfter zitiert wird. Mit seinem Debütroman hat Wolf ein erstaunliches Buch zustande gebracht, ein Experiment, auf das man sich als Leser ruhig einmal einlassen sollte.

Sound

Ähnliche Bücher:

Deine Meinung zu »Sound«

Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!

Letzte Kommentare:
Loading
Loading
Letzte Kommentare:
Loading
Loading

Film & Kino:
The Crown - Staffel 3

Die Queen in ihrer vordergründig repräsentativen Rolle ist eine zeitgeschichtliche Ikone, sodass der Erfolg der seit 2016 bei Netflix laufenden Serie „The Crown“ nicht verwundert. Die dritte Staffel markiert allerdings einen Umbruch: Die Royal Family ist in den 60er-Jahren angekommen und viele Rollen werden neu besetzt, da auch die Blaublüter nicht vor dem Altern gefeit sind. Titel-Motiv: © Des Willie / Netflix

zur Film-Kritik