Potiki

  • Zürich: Unionsverlag, 2012, Titel: 'Potiki', Seiten: 276, Übersetzt: Helmi Martini-Honus, Jürgen Martini
Potiki
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Rita Dell'Agnese
721001

Belletristik-Couch Rezension vonOkt 2012

Poetisches Eintauchen in die Welt der Maori

Sich auf den Roman "Potiki" einzulassen, heißt, in eine Welt voller Mythen und Weisheiten einzutauchen. Es ist die Welt der Maori. Patricia Grace nimmt in ihrem Roman die Art auf, wie Geschichten im  Kreis einer vertrauten Dorfgemeinschaft erzählt werden. Sie holt den Leser in diesen Kreis hinein, weist ihm einen Platz zu, von dem aus er das Geschehen gut beobachten kann, ohne mitten hinein zu geraten und lässt ihn dann mit den Eindrücken, die auf ihn hereinstürmen, alleine. Erst die völlige Öffnung gegenüber dieser für europäische Kulturen fremden Art der Erzählung bringt die herbe Poesie der Geschichte voll zur Geltung.

Erzählt wird vornehmlich in der Ich-Perspektive, wobei es anfänglich schwierig ist, einzuordnen, welchen Platz dieses Ich im Gefüge der Dorfgemeinschaft einnimmt. Nach und nach öffnet sich die Perspektive und damit die Chance, sich mit der erzählenden Figur gemein zu machen. Geschickt lassen die Erzählenden – es stellt sich heraus, dass es hier immer mal wieder eine Verschiebung gibt – mythische Hintergründe einfließen, so dass der Leser die momentane Handlung der Gemeinschaft einordnen kann. Doch selbst das kann nicht verhindern, dass die eine oder andere Passage des Romans zunächst unverständlich erscheint und erst im Verlauf der Geschichte eine für den Leser zu erkennende Logik bekommt. Das aber stellt die Leser von "Potiki" vor ein Problem: Sie müssen bereit sein, den verschlungenen Wegen zu folgen und nichts zu hinterfragen. Ansonsten verlieren sie den Anschluss und die Möglichkeit, zu verstehen, was hier geschieht.

Patricia Grace erzählt die Geschichte eines Volkes und sie erzählt sie so, wie das Volk sie erzählen würde. Auf eine Adaption an westliches Verständnis verzichtet sie. Dadurch läuft sie zwar Gefahr, einen Teil der Leser auf ihrem Weg durch das Buch zu verlieren. Doch präsentiert sie jenen, die dabei bleiben, eine faszinierende Welt, in der die Menschen in einer verschlungenen Einheit mit der Natur leben. Wo sich die westliche Kultur gegen drohendes Unheil zu schützen versucht, lassen die Menschen rund um die Erzähler geschehen, was geschehen muss. Sie versuchen, sich jeder neuen Situation im Rahmen ihrer Möglichkeiten anzupassen und alles in Einklang mit den Überlieferungen zu bringen.

"Potiki" ist kein Roman, den man eben mal an einem regnerischen Nachmittag auf den Sofa verschlingt, um dem tristen Alltag zu entgehen. Er fordert mehr. Dafür bringt er die Leser zum Nachdenken über sich selbst und seine Einstellung zum Leben. Die Auseinandersetzung mit der Maori-Kultur ist gleichermaßen schön wie beängstigend. Denn – und dies muss bei einem Roman wie "Potiki" erwartet werden – die Geschichte ist auch eine Anklage. Die Zerstörung der gewachsenen Dorfstrukturen durch Kapitalgeber aus dem Westen, die den bisher wenig beachteten Küstenstrich mit Zivilisation überschwemmt, ist ein unschönes Spiegelbild. Als Teil jener Gesellschaft, die ohne Rücksicht auf die ansässigen Menschen und ihre Überlieferungen ihr Bedürfnis nach luxuriösem Konsum befriedigt, muss sich der Leser gleichermaßen angesprochen wie verantwortlich fühlen.

Unabhängig von der politischen Aussage bleibt Patricia Grace eine Sprachkünstlerin. Die Übersetzer Helmi Martini-Honus und Jürgen Martini haben ihren Teil dazu getan, "Potiki" in seiner herben Poesie und Schönheit zu belassen. Passagen wie: "Blut ist Leben und man erhält sein Leben vom Blut. Unter kräftigen Verrenkungen wird das Leben zwischen den Schenkeln hinausgestoßen, und das Kind, das gerade geboren wurde, niest sich ins Leben oder lebt und schreit die Nacht in Stücke…" entfalten ihre Flügel und schweben wie bunte Schmetterlinge durch das Bewusstsein des Lesers. Alleine schon dafür lohnt es sich, sich auf diese Welt einzulassen.

Spannende und dramatische Szenen wird man in "Potiki" nur selten antreffen. Die leisen, oft melancholischen Töne herrschen vor. Wer sich einen sozialkritischen Thriller verspricht, sollte also die Hände von diesem Roman lassen, ansonsten Enttäuschung nicht zu vermeiden ist. Für alle, die bereit sind, im Kreis der Maori-Gemeinschaft Platz zu nehmen und ihren Geschichten zu lauschen, wird "Potiki" aber einen Gewinn darstellen.

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