Ein wildes Herz

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  • Erschienen: Januar 2000
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Ein wildes Herz
Ein wildes Herz
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Michaela Hövermann
781001

Belletristik-Couch Rezension vonOkt 2012

Vom Wahnsinn der Liebe

Im Sommer des Jahres 1948 erreicht ein mysteriöser Fremder namens Charlie Beale mit seinem Pick-up das beschauliche Südstaaten-Städtchen Brownsburg, Virginia. Lange Zeit ist er nach Kriegsende ruhelos umhergezogen. Ein Suchender mit dem Wunsch nach einer neuen Heimat, einem Neuanfang. Mit dabei sein gesamter Besitz: ein wertvoller Satz Metzgermesser aus Deutschland und ein Koffer voller Geld. Woher es stammt, erfährt man nicht. Bestenfalls vage bleibt auch Charlies Vergangenheit.

Patriotismus und Gottesfurcht werden großgeschrieben in der hinterwäldlerisch anmutenden Kleinstadt-Idylle. Schwarze und Weiße leben sauber voneinander getrennt - und weitgehend aneinander vorbei; es gibt zahlreiche Kirchen, offiziell keinerlei Verbrechen; und so lange es oft genug regnet, auch keine merkliche Unzufriedenheit unter den Bewohnern. Es ist eine Welt der Scheinheiligkeit und Fassaden. Doch vordergründig verspricht Brownsburg, wo das Glück genauso fern scheint wie das Unglück, auch eine gewisse Geborgenheit.

Endlich ein Fleckchen für sich, mehr will Charlie Beale nicht. Er bietet seine Dienste beim örtlichen Metzger Will Haislett an. Dank seines Geschicks und seiner Freundlichkeit wird er bald nicht nur Teil der Familie, sondern der gesamten Stadt. Nur zum Kirchgänger wird er nicht. Man schätzt den fleißigen, kundigen Metzger mit dem großen Herzen und dem stillen, höflichen Wesen dennoch.

Besonders Sam, der fünfjährige Sohn seiner Arbeitgeber, vergöttert ihn und wird zu seinem allgegenwärtigen Schatten. In Charlie werden Beschützerinstinkte wach. Die Kindheit ist eine Welt der Wunden. Das Metzgerpaar Will und Alma Haislett gehören im Grunde bereits zur Großelterngeneration. Mit Charlie teilt Sam, was er mit seinem eigenen Vater nicht erleben kann. Das und mehr.

Denn in der Metzgerei kommt es zu einer folgenschweren Begegnung zwischen Charlie Beale und der jungen Sylvan Glass, die auf ihn wirkt wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Das lebenshungrige Mädchen lebt für Filme, schöne Kleider und erinnert mit ihrer Anmut und ihrem glamourösen Auftreten an die Inkarnation eines Hollywood-Stars.

Ihr Anblick raubt Charlie Beale erst das Herz und  dann den Verstand. Er ist 39 Jahre alt, ein Realist, dem das Leben "jede Poesie ausgetrieben" hat. Sie kaum mehr als ein Kind, verträumt und mehr in Scheinwelten als in der Realität zu Hause.

 Der Ring an ihrem Finger verrät es: Sie ist bereits gebunden. Sie gehört Harrison Boatwright "Boaty" Glass, dem reichsten Mann von Brownsburg, der seine junge Frau mit einem mächtigen Druckmittel erpresst, um sie für alle Zeiten an sich zu binden. Charlie kann das nicht abhalten. Es geschieht auf dem Weg zum Schlachthof, und sie lässt sich auf die Affäre mit ihm ein. Ihre heimlichen Mittwochsbegegnungen werden stets von Sam begleitet, der erst als verschwörerischer Mitwisser und Alibi, später als Zeuge fungiert. Er ist dabei, er sieht, aber er versteht nicht. Jedenfalls nicht alles. Noch nicht. Und irgendwann ist es zu spät, denn als Kind findet er keinen Weg aus dem Strudel, der auch ihn unweigerlich mit in den Abgrund reißt.

Charlie legt Sylvan die Welt zu Füßen, bittet sie, ihren Mann zu verlassen, bereit und willens, alles zu tun, um mit ihr leben zu können. Für sie würde er bis in den Tod gehen. Seine Liebe zu ihr scheint grenzenlos wie das weite Land, das er ihr zum Geschenk macht. Sie soll frei sein. Frei von ihrem grausamen Mann. Frei für ihn. 

Doch wie weit reicht die Liebe der luxusverwöhnten und so unerfahrenen jungen Frau? Kann sie ihre Märchenwelt für eine lebbare Realität aufgeben? Und welche Rolle spielt das Versprechen, das sie bindet? Was anfangs Spielraum für Hoffnung lässt, wird zusehends düsterer. Schließlich wird Charlie verhaftet. Die Anklage: Vergewaltigung. 

Damit scheint die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten...

Selbst wenn die Handlung nicht überrascht und schnell deutlich wird, wer der eigentliche Erzähler der Geschichte ist, fesseln der Schreibstil und die anschauliche Beschreibung von Land und Leuten. Robert Goolrick holt mit diesem zutiefst amerikanischen Roman das erstickende Kleinstadtleben in den Südstaaten ins Bewusstsein der Leser. Bigotterie und religiöser Fanatismus, Prüderie, Schuld, Rassentrennung und eine beklemmende Atmosphäre dauernder Beobachtung prägen den Alltag dieser so unschuldig scheinenden Stadt.

Leider kann der Erzähler nicht vollends überzeugen. Seine Erinnerung ist brüchig; wo er nicht anwesend war oder sich entzieht, muss die Fantasie notwendigerweise Lücken füllen.

Letztendlich geht es um zwei Menschen, die versuchen, auszubrechen und sich neu zu erfinden. Zusammen, aber nicht unbedingt gemeinsam. Und, um es mit den Worten des Autors zu sagen, es geht um die zerstörerische Kraft der Liebe, um Leidenschaft und Wahnsinn. Ein wildes, ein entfesseltes Herz. Das Ende lässt dennoch ein Stück weit fassungslos zurück, zumal nicht alle Motive eindeutig geklärt werden. Andererseits lässt genau das Spielraum für eigene Gedanken, beschäftigt, polarisiert und fordert heraus. Ein düsterer Roman, dem man sich nur schwer entziehen kann, und der zudem auf einer wahren Begebenheit beruht. Goolrick ist selbst in Virginia Valley aufgewachsen. Was er niedergeschrieben hat, wurde ihm vor über 25 Jahren erzählt. "Ich fand, das war die beste Geschichte, die ich je gehört hatte", verrät er in einem Interview.

Nun, das vielleicht nicht. Aber es ist zweifellos eine, die lange nachhallt.

Ein wildes Herz

Robert Goolrick, btb

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