Vielen Dank für das Leben

  • : Carl Hanser, 2012, Titel: 'Vielen Dank für das Leben', Seiten: 400, Originalsprache
Vielen Dank für das Leben
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Wolfgang Franßen
891001

Belletristik-Couch Rezension vonAug 2012

Und weiter

Da hat doch einer keine Chance im Leben. Wobei einer zu sagen, schon viel zu viel gesagt ist. Dieser Mensch kommt auf die Welt und niemand weiß, sein Geschlecht zu bestimmen. Da dies in der Bürokratie des freiheitlichen Sozialismus nicht möglich ist, wird das Geschlecht von Amts wegen benannt: Hurra, es ist ein Junge. Was in einer Romantic Novel Anlass zu glückseligen Umarmungen, zu tränenüberströmten Gefühlsausbrüchen Veranlassung bieten würde, ist bei Sibylle Berg der Start in ein Leben, das keiner haben will, und in dem der, der es lebt, sich auch nicht sicher sein kann, was er da eigentlich lebt. Drangsaliert, ausgenutzt, sich selbst überlassen, schließlich ständig auf der Flucht nach dem Motto: Und weiter.

Gleich zu Anfang denkt man, hier ist mehr als nur ein Kind geboren worden. Hier kehrt die deutsch-deutsche Teilung als Zwitter in die bleierne Zeit der Ideologien zurück. Wo bei Jeffry Eugenides in "Middelsex" ein amerikanisierter, griechischer Hermaphrodit durch eine Gesellschaft abenteuerte und die Mythologie schulterte, taucht dieses Kind, das den skurrilen Namen Toto trägt, allmählich im Schatten unter.

Es wird gleich als etwas gebrandmarkt, das nie erwachsen sein wird, und durchleidet eine fast dickenssche Jugend. Von der Mutter verstoßen, in einem Heim versteckt - solange es nicht geschlechtsreif ist - in eine alkoholsüchtige Bauernfamilie abgeschoben, geschieht zu Anfang ein Wunder: Toto bewahrt sich, indem er Abstand hält, indem er trotz der schlimmsten Grausamkeiten helfen will. Eine solche Lebenslüge geht natürlich nicht spurlos an einem vorbei. Toto wird dick werden, Toto wird unansehnlich werden, er wird seelisch mäandern.

Egal, wo er auch hinkommt, die Welt ist ihm feindlich gesinnt. Sie spannt ihn selbst im Wohlwollen immer nur für eigene Zwecke ein. Wenn Sybille Berg ihn in einer tragikomischen Szene nach Mist stinkend in die Hände westdeutscher Aktivisten fallen lässt, die ihn mittels einer geheimen Kammer unter dem Bus aus der DDR in den Westen schmuggelt, lastet auf den Rettern der trockene Staub der 70er Ideologie, dass die Welt von den Richtigen noch richtiger gemacht werden kann.

Toto ist ein scharfer Beobachter. Er registriert. Er saugt das fremde Leben auf. Dabei verschwindet nicht selten das eigene seelische Elend hinter jenem der anderen. Jedoch nie nach dem Motto: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Die Welt geht im Alltag zu Grunde. Sie braucht keine Kriege mehr. Selbst schuld, scheint da eine Autorin zu sagen, die in ihrer Kolumne jede Woche im SPIEGEL die Frage stellt, wie wir denn da leben, wie wir dieses Leben mit uns aushalten? In einem Dasein, das ohnehin nicht für die Ewigkeit gemacht ist.

Heimatlos streunt Toto durchs Land. Immer auf der Suche nach einem Ort, an dem er, wenn schon nicht bleiben, dann kurz verweilen darf. Die Autorin verleiht ihm zwar auch eine wundersam künstlerische Begabung, indem seine Falsettstimme seine Zuhörer bezaubert, aber sie entgeht der Gefahr, aus ihm ein unverstandenes Genie zu machen. Der Ekel der anderen vor dem, was offenkundig anders ist, ist zu stark. Er ist der Freak, der ferngehalten werden muss, wenn er sich nicht gerade für einen aufopfert.

Und weiter. Und weiter. Und weiter. Bis einem die Kraft ausgeht. Immer wieder ein neuer Lebensanfang. Aus dem bleiern Grau des Staatssozialismus in die bunte Welt des Konsums geworfen. In eine Zukunft verbannt, in der die Natur sich zu rächen beginnt, heißt es immer wieder durchhalten, hoffen, abhaken. Trotz allem Pessimismus steckt auch ein Hauch von Optimismus darin.

Toto hängt sich halt nicht auf. Er widersteht. Es könnte ja da noch etwas auf ihn warten, obwohl er längst mit sich und der Welt fertig ist. Und sei es, dass man einfach in der falschen Haut geboren wurde, eigentlich kein Mann sondern eine Frau ist. Mitten in der Geschichte wechselt Sibylle Berg plötzlich die Fronten, wird aus dem männlichen Monster der weibliche Freak. Der, der sich in Frauenkleidern durch die Straßen bewegt. In Nachtclubs sich zwischen verbitterten Schattengestalten krümmt. Was braucht so einer einen Vater, eine Mutter.

Wäre da nicht Kasimir, Totos Alter Ego mit gemeinsamer Heimvergangenheit in der DDR, der es schafft, die Verletzungen der Jugend in beruflichen Erfolg auf dem Aktienmarkt umzuwandeln. An diesem vermeidlichen Freund wird Toto zu Grunde gehen. Kasimir wird ihm etwas abringen, das Toto zeitlebens tief in sich gehütet hat. Die Sehnsucht, das Gespür nach ungeschützter Liebe. Toto wird sich verlieben und glauben, selbst geliebt zu werden, um mit einer unsäglichen Wucht allein zurückgelassen zu werden. Sein Leben ist einfach in die Welt gestoßen, und er bedankt sich dafür, indem durchhält. Nicht Hand an sich legt. Wie man vermuten könnte, wenn sich die Schraube seelischer Kälte um das weibliche Wesen zudreht. Diese Reinheit an Seele wird Gegenstand von Kasimirs Hass. Nicht einmal sich selbst darf Toto retten.

Davon kann nur eine Autorin wie Sybille Berg erzählen. Eine Stylistin, deren kühler Blick das Menschliche wahrt. Viel Platz als Leser, da zu lavieren, gibt es nicht. Entweder vertrauen wir uns diesem schrecklich einsamen Leben an oder wir werden den Roman nicht zu Ende lesen, was ein Verlust wäre. Selten treffen wir in der deutschen Literatur auf eine so gnadenlose Betrachtung des Miteinanders.

Ob wohl jemals ein Gremium den Mut hat, Sybille Berg den deutschen Buchpreis zuzusprechen? Wo doch alle lieber den großen Gegenwartsroman feiern oder die Betrachtung der Mittelmäßigkeit als literarische Sensation lobhudeln. Leser von Sybille Berg wandeln nicht auf ausgetretenen Pfaden, sie folgen eigenen. Das macht es zuweilen brüchig und gleichsam spannend, sie zu lesen.

Vielen Dank für das Leben

Sibylle Berg, Carl Hanser

Vielen Dank für das Leben

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