Wärst du doch hier

  • dtv
  • Erschienen: Januar 2012
  • 1
  • München: dtv, 2012, Titel: 'Wärst du doch hier', Seiten: 420, Übersetzt: Susanne Höbel
Wärst du doch hier
Wärst du doch hier
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Rosie Sabel
861001

Belletristik-Couch Rezension vonAug 2012

Denn es gibt keinen Ort fern von allem

"Auch er hatte ein Gesicht wie eine Mauer, auch er taumelte. So versuchte er sich abzusichern: das Gegebene hinzunehmen und weiterzutaumeln, nach außen hin stark oder einfach stur zu wirken und innerlich zu taumeln. Er war genau wie sein Vater." Graham Swift, einer der wichtigsten Autoren der britischen Gegenwartsliteratur, hat in seinem neuen Buch "Wärst du doch hier" erneut eine eher unscheinbare Hauptfigur erschaffen, die von längst vergangenen Ereignissen eingeholt wird und daraufhin ihren Lebensentwurf infrage stellen muss. Swifts Leitmotiv für das Vorantreiben seiner Geschichte ist stets die Bedeutung der Vergangenheit für gegenwärtige Handlungen. Dies zieht sich wie ein roter Faden durch Swifts literarisches Werk und begann mit seinem ersten Roman "Waterland", der sich umgehend auf die Shortlist des Booker Prize katapultierte und mit Jeremy Irons verfilmt wurde.

Jack Luxton und sein acht Jahre jüngerer Bruder Tom wachsen auf einer Rinderfarm in Devon auf. Die Mutter ist längst tot, der Vater regiert mit harter Hand und Gefühl- und Wortlosigkeit. Mitte der achtziger Jahre bricht BSE aus, alle Tiere in der Gegend müssen getötet werden, die Farm steht vor dem Ruin. An seinem 18. Geburtstag geht Tom zum Militär und lässt nie wieder von sich hören. Kurz darauf erschießt sich der Vater. Dreizehn Jahre später, die Farm ist längst verkauft und Jack betreibt mit seiner Frau Ellie einen Wohnwagenpark auf der Isle of Wight, kommt ein Brief des Verteidigungsministeriums: Tom ist im Irakkrieg gefallen.

Bereits im 1. Weltkrieg starben zwei Brüder der Familie Luxton. Einer von ihnen erhielt eine Tapferkeitsmedaille, die seither in der Familie verwahrt und anlässlich des Jahrestages poliert und zur Schau gestellt wird. Nun gibt es wieder zwei Brüder, von denen zwar nur einer zur Armee geht, doch da die beiden sich sehr nahestehen, geht auch Jack mit, denn "ein Teil von Jack gehörte seinem Bruder." Als Vertreter des new historicism verknüpft Swift stets die charakterliche Weiterentwicklung seiner Figuren mit weltgeschichtlichen Ereignissen. So zieht der Rinderwahn Alkoholismus, erhöhte Selbstmordraten und gravierende Lebensplanänderungen bei den verarmten Farmer nach sich, "statt Farmer zu sein, hütete Jack nun eine Herde Wohnwagen". Auch die Menschen verhalten sich wie Wahnsinnige. Während viele Verbündete gegen eine Intervention im Irak waren, entschied sich England für die Teilnahme am Irakkrieg an der Seite der USA. Jack fühlt sich angesichts der Repatriierung seines gefallenen Bruders selbst wie ein verwundeter Soldat, er führt Krieg mit sich selbst, mit seiner Frau, seiner Umgebung, dem Rest der Welt. "Denn es gibt keinen Ort fern von allem."

In vielen großen und kleinen Kreisen beschreibt Swift auf knapp 420 Seiten die Entwicklung seines Protagonisten Jack, der sich in einer massiven Lebenskrise befindet. "Jack hatte den intensiven Wunsch, nicht zu wissen, wer er war." Im Außen geschieht nicht viel, dafür tobt im Inneren Jacks ein Krieg. Er erinnert Vergangenes, reflektiert, verhält sich wie alle anderen vor ihm oder eben auch nicht – im allerletzten Moment. Der wortkarge, zunächst eher widersprüchliche Farmer erschließt sich dem Leser aufgrund der Teilhabe an seiner Gedankenwelt immer mehr, dank seiner inneren Monologe, die fast therapeutische Wirkung für ihn und den Leser haben. "Von jetzt an war alles unbekanntes Terrain." Das Buch lässt trotz dieser vordergründigen Ereignislosigkeit nicht kalt, man nimmt intensiv teil an Jacks Katharsis. Ganz sicher heißt Jacks Wohnwagenpark nicht rein zufällig "The Lookout", wir Leser sitzen auf unserem Beobachtungsposten, beobachten das Geschehen und halten Ausschau nach dem geläuterten Jack und unserer eigenen Läuterung. Auch im Text selbst verwendet Swift den Buchtitel (im Original: Wish you were here) mehrfach vollendet. Immer, wenn ein Lernen, ein Erkennen einsetzt, wenn jemand sich der Bedeutung eines anderen Menschen bewusst wird, denkt dieser "wärst du doch hier". Ein intensives Buch, das einen lange nicht loslässt. Brillant, zeitgenössisch, berührend.

Wärst du doch hier

Graham Swift, dtv

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