Die gläserne Frau

  • Droemer
  • Erschienen: Januar 2012
  • 1
  • : Droemer, 2012, Titel: 'Die gläserne Frau', Seiten: 384, Übersetzt: Anette Grube
Die gläserne Frau
Die gläserne Frau
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Rita Dell'Agnese
881001

Belletristik-Couch Rezension vonMai 2012

Gibt es die zweite Chance?

Sie bricht aus einem goldenen Käfig aus und taucht unter. Als Betreuerin in einem Hundeasyl will Lydia unerkannt ein neues Leben führen. Doch so sehr sie sich auch bemüht hat, ihre Spuren zu verwischen, so wird sie doch von einem Paparazzo aufgespürt und muss davon ausgehen, dass ihre neue Identität gelüftet wird. Das würde unweigerlich einen Skandal herauf beschwören, der nicht nur Lydias Welt erschüttern würde, sondern auch das ihrer beiden Söhne, die die Mutter tot glauben. Lydia erkennt, dass sie in Wahrheit keine zweite Chance bekommen hat und nie eine bekommen wird. Sie wird ihr ganzes Leben lang auf der Flucht sein und muss sich vor Entdeckung fürchten. So muss sie sich der Situation stellen.

Monica Alis Gedankenspiel, eine Frau, die stets im Licht der Öffentlichkeit steht, könnte ihren Tod vortäuschen und nach einigen Veränderungen irgendwo unerkannt ein neues Lebe beginnen, hat etwas Faszinierendes. Die Autorin lässt in ihrem Roman das ganze Spektrum an Gefühlen zu. Lydia darf für einen Moment zur Ruhe kommen, um dann wieder in einen sich immer schneller drehenden Strudel von negativen und euphorischen Momenten zu geraten. Hier geht Monica Ali sehr einfühlsam zu Werk. In einer ungewöhnlichen Splittung der Erzählung nimmt sie all jene Gefühlslagen auf, die Lydia im Laufe ihrer persönlichen Geschichte durchlebt.

Zunächst präsentiert die Autorin einen nach bekanntem Schema aufgebauten Roman: Drei Freundinnen in einer amerikanischen Kleinstadt warten auf ihre gemeinsame Freundin, mit der sie deren Geburtstag feiern möchten. Doch Lydia lässt sich nicht blicken und die Freundinnen müssen erkennen, dass sich etwas Schlimmes ereignet hat. Bis zu diesem Moment serviert Monica Ali ihrem Publikum eine reine Erzählung. Sie outet diese zu Beginn zwar als Fiktion, macht dies aber durch einen lebendigen und direkten Erzählstil gleich wieder vergessen. Von den wartenden Frauen springt die Autorin dann unvermittelt zu einem todkranken Mann, der in den letzten Tagen seines Lebens ein Tagebuch führte, in dem er die Geschichte der wahren Identität Lydias schildert. Nach und nach offenbart der Sterbende die Details des Identitätswechsels seines Schützlings. Und auch seine unzerbrechliche Liebe zu ihr, die so jedoch nie hätte gelebt werden können. Die Einträge liegen allerdings schon beinahe zehn Jahre zurück.

Zufrieden mit dieser Zweiteilung, die dem Roman eine spezielle Note verleiht, möchte sich das Publikum schließlich wieder dem aktuellen Geschehen in der amerikanischen Kleinstadt zuwenden. Immerhin haben die Tagebucheinträge nicht nur Lydias Geheimnis preis gegeben, sondern auch eine gewisse Form von Voyeurismus wachgerufen. Bis zu diesem Zeitpunkt obsiegt die Lust an der Sensation über mögliche Empathie. Doch anstatt in die Kleinstadt zurückzukehren und zu schildern, was nun mit Lydia passiert, legt Monica Ali eine Reihe von Briefen vor, die Lydia einst verfasste und in denen sie ihre von einem Extrem ins andere fallende Gemütsverfassung offen legt. Dadurch entfernt sich die Autorin geschickt vom Voyeurismus und lässt die bisher eher verhaltene Empathie aufkochen. Mag der Leser bis zu jenem Moment das Gefühl gehabt haben, Lydia könne einer momentanen Laune einer verwöhnten Frau nachgegeben haben, so beginnt er die Not zu spüren, die die Frau zu einem solch drastischen Schritt getrieben hat.

Der jeweils unerwartete Wechsel der Erzählform stellt erstaunlicherweise keinen eigentlichen Bruch in der Geschichte dar. Die Leser werden von Monica Ali in ihrer möglichen Verwirrung nicht alleine gelassen sondern geschickt durch ein Labyrinth manövriert. Mit wachsender Faszination verfolgt das Publikum den Ausbruch Lydias aus ihrem goldenen Käfig und den Versuch, irgendwo neu anzufangen. Und je länger Monica Ali ihre Leser am Leben der verzweifelten Frau teilhaben lässt, desto stärker wird die Verbundenheit mit der von äußeren Zwängen zerstörten Persönlichkeit.

Es fällt schwer, nach diesem intensiven Erlebnis zurückzukehren und sich in Erinnerung zu rufen, dass es sich hier um reine Fiktion handelt. Immerhin hat Monica Ali nie einen Zweifel daran gelassen. Man möchte glauben, dass dies alles möglich wäre und gleichzeitig ist man froh, dass es Lydia in dieser Form wohl nie gegeben hat und nicht geben könnte. Ein reiner Roman also. Aber ein gutgeschriebener und wohl durchdachter. Wenn auch einzelne Szenen ausbrechen und einem eher durchschnittlichen Kriminalroman entlehnt scheinen, so ist doch das Gesamtkonzept in jeder Hinsicht überzeugend. Monica Ali legt ein Buch vor, das nicht nur durch seine außergewöhnliche Komposition überzeugt, sondern auch durch eine unglaubliche Nähe und Überzeugungskraft. 

Die gläserne Frau

Monica Ali, Droemer

Die gläserne Frau

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